Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
umgebracht wurde, weil die Männer der Gruppe keine Mädchen mehr wollten. Bei einer anderen Gelegenheit erschlug ein Mann einen kleinen Jungen, »weil er immer schlecht gelaunt war und oft weinte«. Ein anderes Kind wurde lebendig begraben, »weil es komisch aussah und die anderen Kinder es gehänselt haben«. 14
Trotzdem sollten wir nicht vorschnell über die Aché urteilen. Anthropologen, die lange Jahre bei ihnen lebten, berichten, es sei ausgesprochen selten zu Gewalt zwischen Erwachsenen gekommen. Frauen und Männer konnten nach Belieben ihre Partner wechseln. Sie lächelten und lachten unaufhörlich, hatten keine Anführer und mieden herrschsüchtige Stammesgenossen. Sie waren ausgesprochen großzügig und hatten kein Interesse an Erfolg oder Wohlstand. Harmonisches Zusammenleben und gute Freundschaften waren ihnen wichtiger als alles andere im Leben. 15 Für sie war die Tötung von Kindern, Kranken und Alten nichts anderes als für uns Abtreibung oder Sterbehilfe. In diesem Zusammenhang sollten wir nicht vergessen, dass die Aché von den Bauern der Region grausam verfolgt und ermordet wurden. Es kann durchaus sein, dass sie aufgrund der Notwendigkeit, sich vor ihren Feinden zu verstecken und zu fliehen, extrem erbarmungslos gegen Angehörige vorgingen, die eine Gefahr für den Rest der Gruppe darstellen konnten.
In Wahrheit war die Gesellschaft der Aché, genau wie jede andere menschliche Gesellschaft, ausgesprochen komplex. Es wäre deshalb nicht angebracht, sie zu idealisieren oder zu verdammen. Die Aché waren weder Engel noch Teufel, sondern Menschen. Genau wie die Jäger und Sammler der Steinzeit.
Sprechende Geister
Was wissen wir vom geistigen und religiösen Leben der Jäger und Sammler? Die Ökonomie der Wildbeuter lässt sich noch relativ leicht rekonstruieren, da wir es mit mess- und zählbaren Faktoren zu tun haben. Wir können errechnen, wie viele Kalorien ein Mensch pro Tag zum Überleben benötigte, wie viele Kalorien in einem Kilogramm Walnüsse stecken, und wie viele Walnüsse sich durchschnittlich in einem Quadratkilometer Wald sammeln lassen. Aber galt die Walnuss als besonderer Leckerbissen oder wurde sie einfach mitgegessen? Glaubten die Wildbeuter, dass in den Walnussbäumen Geister lebten? Gefielen ihnen die Blätter des Walnussbaums? Wenn ein Junge ein Mädchen an einen romantischen Ort entführen wollte, suchte er dann den Schatten eines Walnussbaums? Die Welt der Gedanken, Glaubensvorstellungen und Gefühle ist ungleich schwerer zu fassen.
Die meisten Forscher sind sich einig, dass unter den Jägern und Sammlern animistische Vorstellungen vorherrschten. Animismus (vom lateinischen Wort anima , das »Seele« oder »Geist« bedeutet) ist die Vorstellung, dass die Welt von beseelten Wesen bewohnt wird, die miteinander kommunizieren können. Animisten glauben, dass fast jeder Ort, jedes Tier, jede Pflanze und jedes Naturphänomen ein Bewusstsein und Empfindungen hat. Sie können beispielsweise überzeugt sein, dass ein großer Fels auf der Spitze eines Berges Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse hat. Der Fels könnte sich zum Beispiel über eine Handlung der Menschen ärgern und über eine andere freuen. Er könnte die Menschen unterstützen oder um Gefälligkeiten bitten. Die Menschen wiederum können mit dem Felsen sprechen und ihn besänftigen oder ihm drohen. Nicht nur der Fels ist ein beseeltes Wesen, sondern auch die Eiche unterhalb des Felsens, der Bach am Fuße des Hügels, die Quelle auf der Lichtung, verschiedene Büsche, Kräuter, Mäuse, Wölfe, Vögel und so weiter. Daneben wird die Welt von den Geistern der Toten und einer Vielzahl von körperlosen Wesen bevölkert, die später Dämonen, Feen und Engel heißen sollten.
Für Animisten gibt es keine feste Grenze zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Sie kommunizieren direkt durch Sprache, Gesang, Tanz und Ritual mit ihnen. Ein Jäger kann zum Beispiel eine Herde von Hirschen ansprechen und sie bitten, dass sich einer von ihnen opfert. Wenn die Jagd erfolgreich verläuft, kann er das getötete Tier um Vergebung bitten. Wenn jemand krank wird, kann ein Medium mit dem Geist sprechen, der die Krankheit verursacht hat, und ihn besänftigen oder vertreiben. Wenn nötig, kann das Medium andere Geister um Hilfe bitten. Dabei sind die angerufenen Geister ganz spezifische Wesen: Es handelt sich nicht um universelle Götter, sondern um einen ganz bestimmten Hirsch, Baum, Fluss oder Geist.
Es gibt nicht nur keine feste Grenze
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