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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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verwandeln könne, wenn er ihr beibringt, wie eine feine Dame zu sprechen. Und eine moderne Eliza muss wissen, wie sehr sie sich um jeden der vielen Kunden bemüht, die ihren Blumenladen betreten. Sie kann nicht lange Erkundigungen über die Vorlieben und wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Kunden einholen. Vielmehr nutzt sie soziale Signale wie Kleidung und Alter, um einen Anwalt, der zwei Dutzend langstielige Rosen für seine Mutter kauft, von einem Bürogehilfen zu unterscheiden, der einer Sekretärin mit einem netten Lächeln ein paar Gänseblümchen schenken will.
    Tatsächlich spielen auch natürliche Eigenschaften eine Rolle bei der Entstehung sozialer Unterschiede. Diese werden jedoch immer durch erfundene Hierarchien vermittelt, und zwar auf zweierlei Weise. Erstens müssen die meisten Fähigkeiten gefördert und entwickelt werden. Selbst wenn jemand mit einem bestimmten Talent zur Welt kommt, bleibt es ungenutzt, wenn es nicht entwickelt wird. Aber nicht alle bekommen diese Chance: Ob jemand gefördert wird oder nicht, hängt in der Regel von seiner Position in der erfundenen Hierarchie ab. Harry Potter ist ein gutes Beispiel: Da er nach seiner Geburt von seinen Eltern, zwei angesehenen Magiern, getrennt und von ahnungslosen Muggles aufgezogen wird, kommt er in der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei an, ohne auch nur die geringste Ahnung von Magie zu haben. Er braucht ganze sieben Bücher, um seine einmaligen Fähigkeiten zu entwickeln.
    Und zweitens, selbst wenn Menschen aus verschiedenen Schichten exakt dieselben Fähigkeiten entwickeln, haben sie trotzdem nicht dieselbe Aussicht auf Erfolg. Wenn in der britischen Kolonie Indien ein Unberührbarer, ein Brahmane, ein katholischer Ire oder ein protestantischer Engländer exakt dasselbe unternehmerische Talent entwickelt hätten, dann hätten sie trotzdem nicht dieselbe Chance auf wirtschaftlichen Erfolg und persönlichen Reichtum gehabt. Gesetze und gläserne Decken hätten dafür gesorgt, dass die Karten von vorneherein nicht gleich verteilt sind.
    Ein Teufelskreis
    Alle Gesellschaften basieren auf erfundenen Hierarchien, doch diese Hierarchien können sehr unterschiedlich aussehen. Woher kommt das? Warum teilte die indische Gesellschaft die Menschen nach Kasten ein, die ottomanische Gesellschaft nach Religionen und die amerikanische Gesellschaft nach Hautfarbe? In den meisten Fällen war der Grund eine willkürliche historische Verwerfung, die im Laufe der Generationen zu einem Graben wurde, weil bestimmte Gruppen ein Interesse daran hatten.
    Das indische Kastensystem wurde zum Beispiel erfunden, als vor dreitausend Jahren arische Stämme nach Nordindien vordrangen und die einheimische Bevölkerung unterwarfen. Die Eindringlinge errichteten eine hierarchische Gesellschaftsordnung, in der sie als Priester und Krieger oben standen und die Einheimischen als Diener und Sklaven ganz unten. Da die zahlenmäßig unterlegenen Neuankömmlinge befürchteten, ihre Macht und Identität zu verlieren, erfanden sie das Kastenwesen. Sie teilten alle Menschen in verschiedene Gruppen mit eigenen Berufen, Gesetzen, Privilegien und Pflichten ein. Eine Vermischung der Kasten wurde durch strenge Regeln und Normen verboten, die Angehörigen der verschiedenen Kasten mussten getrennt leben, essen und feiern. Vor allem durften sie nicht untereinander heiraten.
    Die Herrschenden erklärten, das Kastenwesen, das vor allem über religiöse Tabus funktionierte, sei nicht etwa ein Zufallsprodukt der Geschichte, sondern spiegele ewige kosmische Wahrheiten wider. Die Kategorien »Reinheit« und »Unreinheit« spielten im Hinduismus eine zentrale Rolle, und sie mussten nun als Fundament der gesellschaftlichen Pyramide herhalten. Fromme Hindus lernten, dass die Vermischung der Kasten nicht nur sie verunreinige, sondern die gesamte Gesellschaft. Das ist keine typisch hinduistische Vorstellung. Zu allen Zeiten und in fast allen Gesellschaften erwies sich die Vorstellung von Reinheit und Unreinheit als das wirkungsvollste Mittel zur Durchsetzung gesellschaftlicher und politischer Schranken. Die Furcht vor der »Unreinheit« ist in unseren biologischen Überlebensinstinkten verwurzelt und schützt uns vor potenziellen Krankheitsherden. Wer eine Gruppe – seien es Frauen, Juden, Homosexuelle oder Schwarze – vom Rest der Gesellschaft isolieren möchte, erzielt die größte Wirkung, wenn er alle anderen überzeugt, dass diese Gruppe »unrein« ist.
    Das Kastensystem und seine

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