Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Reinheitsgebote verwurzelten sich tief in der indischen Kultur. Nachdem die arische Einwanderung längst vergessen war, glaubten die Inder nach wie vor an das Kastenwesen und fürchteten sich vor Verunreinigung durch eine Vermischung der Kasten. Das System war keineswegs starr, im Gegenteil, im Laufe der Zeit spalteten sich große Kasten in immer neue Unterkasten auf. Aus den ursprünglichen vier wurden schließlich mehr als dreitausend Kasten namens jati (wörtlich »Geburt«). Diese Vermehrung der Kasten änderte nichts am Grundprinzip, nach dem jeder Mensch in eine bestimmte Position geboren wird und jeder Verstoß gegen die Regeln den Einzelnen und die Gesellschaft verunreinigt. Die Kaste bestimmt, welchen Beruf jemand ergreift, was er isst, wo er lebt und wen er heiraten kann. In der Regel können Hindus nur innerhalb ihrer Kaste heiraten und vererben ihren Status an ihre Kinder weiter.
Wann immer eine neue Berufsgruppe entstand oder eine neue gesellschaftliche Gruppierung auftauchte, musste sie als Kaste anerkannt werden, um einen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können. Gruppen, die nicht als eigene Kaste anerkannt wurden, wurden dagegen von der Gesellschaft ausgeschlossen. Bis heute müssen diese »Unberührbaren« abseits der Gesellschaft leben, die schmutzigsten Arbeiten übernehmen und zum Beispiel den Müll nach Verwertbarem durchsuchen. Selbst die Angehörigen der untersten Kasten vermeiden es, sich mit ihnen zu vermischen, mit ihnen zu essen, sie zu berühren oder gar, sie zu heiraten. Im modernen Indien werden Heirat und Beruf nach wie vor stark vom Kastenwesen geprägt, trotz aller Versuche der demokratischen Regierung des Landes, das System aufzubrechen und die Hindus zu überzeugen, dass sie durch eine Vermischung der Kasten nicht verunreinigt würden. 51
Reinheit in Amerika
Auf dem amerikanischen Doppelkontinent wurde die Rassenhierarchie durch einen ähnlichen Teufelskreis aufrechterhalten. Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert importierten europäische Eroberer Millionen afrikanischer Sklaven, die in Bergwerken und Plantagen zur Arbeit gezwungen wurden. Dass sie Sklaven aus Afrika brachten und nicht aus Europa oder Ostasien, hat vor allem drei Gründe.
Erstens lag Afrika näher und es war billiger, Arbeitskräfte aus dem Senegal zu importieren als zum Beispiel aus Vietnam.
Zweitens gab es in Afrika bereits einen gut organisierten Sklavenhandel, der Menschen aus Schwarzafrika in den Nahen Osten verschleppte, während die Sklaverei in Europa relativ selten war. Es war einfacher, auf einem bestehenden Markt einzukaufen, als einen neuen zu schaffen.
Und drittens wurden die Plantagen in den Vereinigten Staaten, Haiti und Brasilien von Krankheiten wie Malaria und Gelbfieber heimgesucht, die ursprünglich aus Afrika kamen. Afrikaner hatten über viele Generationen hinweg eine teilweise Immunität gegen diese Krankheiten entwickelt, während Europäer in Scharen dahingerafft wurden. Für einen Plantagenbesitzer war es also wirtschaftlich sinnvoller, afrikanische Sklaven zu kaufen, statt europäische Schuldsklaven. Paradoxerweise wurde so die biologische Überlegenheit der Afrikaner Ausgangspunkt für ihre gesellschaftliche Unterlegenheit: Gerade weil die Afrikaner besser an die tropischen Klimate angepasst waren als die Europäer, wurden sie zu Sklaven der europäischen Herren! Aufgrund dieser drei willkürlichen Faktoren spalteten sich die neuen Gesellschaften des amerikanischen Doppelkontinents in eine herrschende Gruppe von »weißen« Europäern und eine unterdrückte Gruppe von »schwarzen« Afrikanern.
Natürlich gibt niemand gern zu, dass er Sklaven einer bestimmten Hautfarbe und Herkunft nur hält, weil ihm dies wirtschaftliche Vorteile bringt. Wie die arischen Eroberer Indiens wollten die weißen Amerikaner gern als fromme und gerechte Menschen dastehen. Daher bemühten sie religiöse und pseudowissenschaftliche Mythen, um die neue Ordnung zu rechtfertigen. Theologen behaupteten zum Beispiel, die Schwarzafrikaner seien Nachkommen einer biblischen Figur namens Ham, der von seinem Vater Noah mit dem Fluch belegt worden war, dass seine Kinder Sklaven würden. Und Wissenschaftler argumentierten, Schwarze seien den Weißen biologisch unterlegen, weil ihre Intelligenz und ihr moralisches Empfinden weniger entwickelt seien oder weil sie schmutziger seien und Krankheiten verbreiteten (mit anderen Worten, weil sie »unrein« waren).
Diese Mythen blieben in den amerikanischen
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