Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
wurden und Waisen sich als Taschendiebe verdingen mussten. Und wer je einen Roman von Alexander Solschenitzyn gelesen hat, der hat erfahren, dass die Gleichheit des Kommunismus eine grausame Tyrannei hervorbrachte, die jeden Aspekt des Lebens kontrollieren wollte. Der Sozialstaat versucht, einen Mittelweg zu gehen, weshalb er von allen Seiten kritisiert wird.
So wie es der mittelalterlichen Kultur nie gelang, Rittertum und Christentum unter einen Hut zu bekommen, so schafft es die moderne Welt nicht, Freiheit und Gleichheit zu vereinbaren. Das ist jedoch kein Defekt der mittelalterlichen oder der modernen Kultur. Im Gegenteil, Widersprüche sind unvermeidlicher Teil jeder menschlichen Kultur. Mehr noch, sie sind der Motor der Geschichte und machen unsere Art so kreativ und dynamisch, wie sie ist.
Ungereimtheiten, Spannungen und Konflikte machen die Würze jeder Kultur aus. Deshalb vertritt jeder Angehörige einer bestimmten Kultur unweigerlich Vorstellungen und Werte, die einander widersprechen oder sich gegenseitig ausschließen. Dieses Phänomen ist so verbreitet, dass es sogar seinen eigenen Namen hat: die kognitive Dissonanz. Unter diesem Begriff versteht man zwar oft eine psychische Störung, doch in Wirklichkeit handelt es sich um eine überlebenswichtige Angelegenheit. Wenn wir nicht in der Lage wären, gleichzeitig völlig unvereinbare Vorstellungen und Werte zu vertreten, wäre unsere gesellschaftliche Ordnung längst zusammengebrochen.
Wenn Sie zum Beispiel die Muslime verstehen wollen, die sich jeden Freitag in der Moschee in Ihrem Stadtteil zum Gebet versammeln, dann sollten Sie nicht nach einem perfekten System von Werten suchen, die allen Muslimen lieb und teuer sind. Suchen Sie lieber nach Konflikten und Widersprüchen, mit denen sich die Muslime dauernd herumschlagen und die niemand lösen kann. Eine Frage, auf die kein Muslim eine Antwort hat, ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Kultur.
Der Spionagesatellit
Menschliche Kulturen befinden sich ständig im Fluss. Aber sind die Veränderungen willkürlich, oder folgen sie einem übergreifenden Muster? Oder anders gefragt: Hat die Geschichte ein Ziel?
Das hat sie in der Tat. Wenn wir die Entwicklung über die Jahrtausende und Kontinente hinweg betrachten, stellen wir fest, dass kleine, einfache Kulturen zu immer größeren und komplexeren Kulturen verschmelzen. Mit jedem Jahrtausend gibt es immer weniger Kulturen, und die verbleibenden werden immer größer und komplexer.
Das ist natürlich eine sehr grobe Verallgemeinerung und trifft zu, wenn wir in ganz großen Bögen denken. Über kürzere Zeiträume betrachtet, entsteht der Eindruck, dass für jede Gruppe von Kulturen, die zu einer Megakultur verschmilzt, anderswo eine Megakultur in die Brüche geht. Das Reich der Mongolen dehnte sich aus, bis die Mongolen große Teile Asiens und Osteuropas beherrschten, nur um schließlich zu zerbrechen. Das Christentum bekehrte Hunderte Millionen von Menschen und zerfiel gleichzeitig in zahllose Sekten. Die lateinische Sprache breitete sich in ganz West- und Mitteleuropa aus und brachte schließlich eine ganze Familie von unterschiedlichen Sprachen hervor.
Ob wir ein Ziel der Geschichte erkennen oder nicht, hängt von der Perspektive ab. Wenn wir die Geschichte aus der Höhe einer Regenwolke betrachten und nur ein paar Jahrhunderte weit zurückblicken, ist es schwer zu beurteilen, ob sie auf Einheit oder Vielfalt zusteuert. Aber wenn wir die Wolken unter uns zurücklassen, aus der Sicht eines Spionagesatelliten auf die Geschichte schauen und ganze Jahrtausende überblicken, dann ist glasklar, dass sich die Geschichte unaufhaltsam in Richtung Einheit entwickelt. Die Aufspaltung des Christentums oder der Zusammenbruch des Mongolenreichs waren nichts als Bremsschwellen auf der Autobahn der Geschichte.
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Die allgemeine Stoßrichtung der Geschichte lässt sich am besten an der Anzahl der verschiedenen Welten ablesen, die zu einem beliebigen Zeitpunkt gleichzeitig nebeneinander existierten. Wir haben uns daran gewöhnt, die Welt als Einheit zu betrachten, doch in der Vergangenheit bestand die Erde aus einer wahren Galaxie von isolierten menschlichen Welten.
Nehmen wir beispielsweise Tasmanien. Diese Insel im Süden Australiens wurde vor rund 12000 Jahren vom Festland getrennt, als die Eiszeit zu Ende ging und die Meeresspiegel anstiegen. Einige Tausend Jäger und Sammler blieben auf der Insel zurück und hatten bis zur Ankunft der europäischen Siedler
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