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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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und zu handeln, bestimmte Dinge zu wollen und bestimmte Regeln zu befolgen. Damit schufen sie »künstliche Instinkte«, mit deren Hilfe Millionen von Menschen effektiv zusammenarbeiten konnten. Dieses Netz der künstlichen Instinkte nennen wir »Kultur«. Ägypter zu sein bedeutete, automatisch wie ein Ägypter zu gehen, zu stehen, zu sitzen, zu sprechen und zu denken.
    Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Annahme verbreitet, jede Kultur sei für sich genommen perfekt. Man meinte, jede Kultur habe ein in sich stimmiges Weltbild und ein System gesellschaftlicher, juristischer und politischer Regeln, die so reibungslos ineinandergreifen wie die Zahnräder eines riesigen Uhrwerks. Kulturen besäßen ein unveränderliches Wesen, und ohne Einfluss von außen konnten sie bis in alle Ewigkeit nach demselben Muster funktionieren. Man sprach daher von der »samoischen Kultur« oder der »tasmanischen Kultur«, als ob die Samoer und Tasmanier seit urdenklichen Zeiten dieselben Vorstellungen, Normen und Werte gehabt hätten.
    Heute geht man allgemein vom genauen Gegenteil aus. Jede Kultur hat zwar ihre eigenen Vorstellungen, Normen und Werte, doch die Kulturen befinden sich dauernd im Fluss. Die Veränderungen werden nicht nur durch Umwelteinflüsse oder die Begegnung mit Nachbarkulturen verursacht, sondern auch durch die innere Dynamik der Kultur selbst. Auch eine isolierte Kultur in einer stabilen Umwelt kann gar nicht umhin, sich dauernd zu verändern. Anders als die Naturgesetze, die in sich stimmig sind, ist nämlich jede menschliche Ordnung voller Widersprüche. Die Kulturen versuchen fortwährend, diese Widersprüche zu beseitigen, und dies führt zu immer neuen Veränderungen.
    Im Europa des Mittelalters glaubten die Adeligen beispielsweise sowohl an das Christentum als auch an die Ritterlichkeit. Ein typischer Adeliger ging morgens in die Kirche und lauschte ehrfürchtig der Predigt des Priesters. »Eitelkeit der Eitelkeiten«, erklärt der Mann auf der Kanzel. »Alles ist eitel. Reichtum, Lust und Ehre sind gefährliche Versuchungen. Du musst sie zurücklassen und auf Jesu Spuren wandeln. Übe dich in Demut wie er, meide Gewalt und allen Luxus, und wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die linke hin.« Nachdenklich geht unser Adeliger nach Hause, legt seine besten Seidengewänder an und begibt sich zum Bankett auf der Burg seines Herrn. Dort fließt der Wein in Strömen, der Bänkelsänger singt von Lancelot und Guinevere und die Gäste geben schmutzige Witze und blutige Anekdoten aus dem Krieg zum Besten. »Es ist besser zu sterben als in Schande zu leben«, verkündet der Baron. »Wenn jemand deine Ehre beschmutzt, kann dies nur mit Blut abgewaschen werden. Nichts ist besser, als die Feinde in die Flucht zu schlagen, während ihre schönen Töchter zitternd zu deinen Füßen liegen.«
    Dieser Widerspruch ließ sich nie auflösen. Doch die dauernden Versuche von Adeligen, Priestern und Gläubigen, ihn zu beseitigen, bewirkten unaufhörliche Veränderungen. Die Kreuzfahrerbewegung war beispielsweise einer der Versuche, diesen Gegensatz zu überwinden. Auf dem Kreuzzug konnten die Ritter auf einen Streich ihren Heldenmut und ihre Frömmigkeit unter Beweis stellen. Dieser Widerspruch brachte Ritterorden wie die Templer und die Johanniter hervor, die eine noch stärkere Synthese aus Christen- und Rittertum herstellen wollten. Er steckt hinter einem Gutteil der mittelalterlichen Kunst und kommt in zahllosen Ritterromanen (zum Beispiel den Epen um König Artus und den Heiligen Gral) zum Ausdruck, deren Handlung um die Frage kreist: »Kann ein guter Ritter auch ein guter Christ sein? Und kann nur ein guter Christ auch ein guter Ritter sein?«
    Ein anderes Beispiel ist die moderne politische Ordnung. Seit der Französischen Revolution begreifen die meisten Menschen im Westen Freiheit und Gleichheit als grundlegende Werte. Doch diese beiden Werte stehen im Widerspruch zueinander. Gleichheit lässt sich nur erreichen, wenn die Freiheit der Bessergestellten beschnitten wird. Und wenn jeder unbegrenzte Freiheit hat, dann geht das auf Kosten der Gleichheit. Die gesamte politische Geschichte seit 1789 lässt sich als der Versuch verstehen, diesen Widerspruch aufzulösen. Wer je einen Roman von Charles Dickens gelesen hat, der weiß, dass die liberalen europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts die Freiheit in den Vordergrund stellten, auch wenn das bedeutete, dass Arme eingesperrt

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