Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
wenn sie streiten und kämpfen, gehen sie von denselben Vorstellungen aus und benutzen dieselben Waffen. Ein echter »Kampf der Kulturen« wäre eher wie das sprichwörtliche Gespräch zwischen zwei Tauben: Keiner würde verstehen, was der andere sagt. Wenn heute der Iran und die Vereinigten Staaten mit den Säbeln rasseln, dann sprechen beide die Sprache der Nationalstaaten, der kapitalistischen Wirtschaft, des Völkerrechts und der Atomphysik.
Wir reden noch immer von »ursprünglichen« Kulturen, aber wenn wir mit »ursprünglich« etwas meinen, das sich unabhängig entwickelt hat, uralte regionale Traditionen verkörpert und nicht von außen beeinflusst wurde, dann gibt es das heute nicht mehr. In den vergangenen Jahrhunderten haben sich sämtliche Kulturen unter einer Flut globaler Einflüsse bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Ein interessanter Fall sind die Nationalgerichte. Wenn wir in ein italienisches Restaurant gehen, erwarten wir Spaghetti mit Tomatensoße, bei polnischen und irischen Restaurants denken wir spontan an Kartoffeln, in einem argentinischen Restaurant wollen wir saftige Rindersteaks essen, in indischen Restaurants freuen wir uns auf kräftig mit Chili gewürzte Currygerichte, und in einem Schweizer Café auf die heiße Schokolade. Aber der Kakao kommt ursprünglich genauso wenig aus der Schweiz wie die Tomaten aus Italien oder die Chilischoten aus Indien. Tomaten, Chili und Kakao stammen aus Mesoamerika und kamen erst im 16. Jahrhundert, nach der Eroberung des Aztekenreichs durch die Spanier, nach Europa und Asien. Julius Caesar und Dante Alighieri aßen nie Spaghetti mit Tomatensoße, Wilhelm Tell wusste nicht, wie Schokolade schmeckt und Buddha würzte seine Speisen nicht mit Chili. Die Kartoffeln kamen vor weniger als 400 Jahren nach Polen und Irland. Und das einzige Steak, das man 1492 in Argentinien bekam, stammte vom Lama.
Genauso kennen wir aus Hollywood-Filmen nordamerikanische Indianer als tapfere Reiter, die sich mutig den Planwagen der europäischen Pioniere entgegenwerfen, um die Kultur ihrer Ahnen zu verteidigen. Doch diese Reiter waren keineswegs die Vertreter einer uralten, ursprünglichen Kultur. Sie waren vielmehr das Produkt einer gewaltigen militärischen und politischen Revolution, die im 17. und 18. Jahrhundert mit der Ankunft der europäischen Pferde über den Westen Nordamerikas hinwegfegte. Im Jahr 1492 gab es in ganz Amerika kein einziges Pferd. So attraktiv uns die Kultur der Sioux und Apachen des 19. Jahrhunderts erscheinen mag, sie war keine »ursprüngliche«, sondern eine sehr moderne Kultur, die unter der Einwirkung globaler Kräfte entstanden war.
Die globale Vision
Praktisch gesehen begann die entscheidende Phase der Globalisierung vor einigen Jahrhunderten mit dem Aufbau von Imperien und der Intensivierung des Handels. Die Menschen in Afrika, Asien, Europa, Amerika, Australien und Ozeanien wurden durch immer engere Beziehungen miteinander verbunden. So kamen die mexikanischen Chilischoten in die indische Küche, und die spanischen Rinder grasten auf argentinischen Weiden. Doch ideologisch gesehen setzte schon im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung eine sehr viel wichtigere Entwicklung ein, als der Gedanke einer »universellen Ordnung« aufkam. Die Geschichte hatte sich bereits über Jahrtausende hinweg auf eine globale Einheit hinbewegt, doch der Gedanke einer universellen Ordnung war den meisten Menschen noch völlig fremd.
In seiner Evolution lernte der Homo sapiens , die Menschen in »wir« und »die anderen« einzuteilen – »wir« war die Gruppe in der unmittelbaren Umgebung, und »die anderen« waren eben alle anderen. Kein Tier interessiert sich für alle Angehörigen seiner Art. Kein Schimpanse käme auf den Gedanken, sich den Kopf über die Interessen seiner Art zu zerbrechen, keine Schnecke macht für die globale Schneckengemeinschaft auch nur ein Hörnchen krumm, kein Löwenmännchen träumt davon, der König aller Löwen zu werden, und am Eingang zu keinem Bienenstock steht der Spruch »Arbeiterinnen aller Länder, vereinigt Euch!«.
Mit dem Beginn der kognitiven Revolution entwickelte sich der Mensch in dieser Hinsicht zu einer Ausnahme. Die Menschen begannen, regelmäßig mit Fremden zusammenzuarbeiten, die sie sich als ihre »Brüder« oder »Freunde« vorstellten. Doch nicht alle Menschen waren Brüder. Irgendwo, im nächsten Tal oder hinter dem nächsten Hügel, lebten immer noch »die anderen«. Als der erste Pharao Menes vor
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