Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
ersten Blick nahe, daß wir einen besonderen Standort im Universum innehaben. Vor allem könnte es so scheinen, als befänden wir uns im Mittelpunkt des Universums, da uns die Beobachtung zeigt, daß sich alle anderen Galaxien von uns fortbewegen. Es gibt jedoch noch eine andere Erklärung: Das Universum könnte auch von jeder anderen Galaxie aus in jeder Richtung gleich aussehen. Dies war, wie erwähnt, Friedmanns zweite Annahme. Wir haben keine wissenschaftlichen Beweise für oder gegen sie. Wir glauben einfach aus Gründen der Bescheidenheit an sie: Es wäre höchst erstaunlich, böte das Universum von anderen Punkten als der Erde aus betrachtet einen Anblick, der von dem sich uns offenbarenden Bild abwiche. In Friedmanns Modell bewegen sich alle Galaxien direkt voneinander fort. Die Situation entspricht weitgehend dem gleichmäßigen Aufblasen eines Luftballons, auf den man Punkte gemalt hat. Während der Ballon sich ausdehnt, wächst der Abstand zwischen jedem beliebigen Punktepaar, ohne daß man einen der Punkte zum Zentrum der Ausdehnung erklären könnte. Ferner bewegen sich die Punkte um so rascher auseinander, je weiter sie voneinander entfernt sind. Entsprechend ist auch in Friedmanns Modell die Geschwindigkeit, mit der zwei Galaxien auseinanderdriften, der Entfernung zwischen ihnen proportional. Deshalb sagt das Modell voraus, daß auch die Rotverschiebung einer Galaxie direkt proportional ihrer Entfernung von uns sein muß, was sich genau mit Hubbles Beobachtungen deckt. Friedmanns Arbeit blieb im Westen weitgehend unbekannt, bis 1935, nach der Entdeckung der gleichförmigen Expansion des Universums durch Hubble, ähnliche Modelle von dem amerikanischen Physiker Howard Robertson und dem britischen Mathematiker Arthur Walker entwickelt wurden.
Es gibt drei verschiedene Modelle, die den beiden Grundannahmen Friedmanns entsprechen – er selbst hat nur eines davon entdeckt. Im ersten (dem von Friedmann entwickelten) expandiert das Universum so langsam, daß die Massenanziehung zwischen den verschiedenen Galaxien die Expansion bremst und schließlich zum Stillstand bringt. Daraufhin bewegen sich die Galaxien aufeinander zu, und das Universum zieht sich zusammen. Abbildung 11 zeigt, wie sich der Abstand zwischen zwei benachbarten Galaxien in stetigem Zeitverlauf verändert. Er beginnt bei Null, wächst auf einen Maximalwert an und schrumpft wieder auf Null. Im zweiten Modell dehnt sich das Universum so rasch aus, daß die Schwerkraft dem Vorgang nicht Einhalt zu gebieten vermag, wenn sie ihn auch ein wenig verlangsamt. Abbildung 12 zeigt das Auseinanderdriften zweier benachbarter Galaxien nach diesem Modell. Es beginnt bei Null und wächst so lange, bis sich die Galaxien mit gleichmäßiger Geschwindigkeit auseinanderbewegen. Schließlich gibt es eine dritte Lösung, der zufolge das Universum gerade so rasch expandiert, daß die Umkehr der Bewegung in den Kollaps vermieden wird. Auch hier beginnt der Abstand, wie in Abbildung 13 dargestellt, bei Null und setzt sich endlos fort. Indessen wird die Geschwindigkeit, mit der die Galaxien auseinanderdriften, kleiner und kleiner, ohne allerdings jemals ganz auf Null zu sinken.
Bemerkenswert am ersten Friedmannschen Modell ist der Umstand, daß das Universum nicht unendlich im Raum ist, der Raum aber auch keine Grenze hat. Die Gravitation ist so stark, daß der Raum in sich selbst zurückgekrümmt wird, so daß er Ähnlichkeit mit der Erdoberfläche bekommt. Wenn man sich auf der Erdoberfläche ständig in eine bestimmte Richtung bewegt, kommt man schließlich wieder an seinen Ausgangspunkt zurück, ohne auf ein unüberwindliches Hindernis gestoßen oder über den Rand gefallen zu sein. Genauso ist nach dem ersten Friedmannschen Modell der Raum beschaffen, nur daß er drei Dimensionen hat, nicht zwei wie die Erdoberfläche. Auch die vierte Dimension, die Zeit, ist von endlicher Ausdehnung, aber sie ist wie eine Linie mit zwei Enden oder Grenzen, einem Anfang und einem Ende. Wenn man die Allgemeine Relativitätstheorie und die Unschärferelation der Quantenmechanik kombiniert, können Raum und Zeit, wie wir später sehen werden, endlich sein, ohne Ränder oder Grenzen zu haben.
Abb. 11: Im Friedmann’schen Modell des Universums entfernen sich zunächst alle Galaxien voneinander. Das Universum expandiert, bis es eine maximale Größe erreicht, und zieht sich dann wieder zu einem einzigen Punkt zusammen.
Abb. 12: Im «offenen» Modell des Universums gelingt es
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