Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
obwohl uns schon viele Eigenschaften bekannt sind, die eine solche Theorie aufweisen müßte. Zweitens wäre jedes Modell, welches das ganze Universum in allen Einzelheiten beschriebe, mathematisch viel zu kompliziert, um mit seiner Hilfe genaue Vorhersagen errechnen zu können. Deshalb ist man zu vereinfachenden Annahmen und Näherungen gezwungen – und selbst unter diesen Umständen bleibt es ungeheuer schwer, Vorhersagen abzuleiten.
Jede Geschichte in der Aufsummierung von Möglichkeiten beschreibt nicht nur die Raumzeit, sondern auch alle Einzelheiten darin, einschließlich so hochentwickelter Organismen wie der Menschen, die die Geschichte des Universums beobachten können. Dies mag eine weitere Rechtfertigung für das anthropische Prinzip liefern, denn wenn alle Geschichten möglich sind, dann können wir, solange wir in einer der Geschichten existieren, das anthropische Prinzip benutzen, um die gegenwärtige Beschaffenheit des Universums zu erklären. Welche Bedeutung den anderen Geschichten, in denen wir nicht vorkommen, zugeschrieben werden kann, ist nicht klar.
Dieser Aspekt einer Quantentheorie der Gravitation wäre weit befriedigender, wenn sich nachweisen ließe, daß bei der Anwendung der Aufsummierung von Möglichkeiten unser Universum nicht nur eine der möglichen Geschichten ist, sondern auch eine der wahrscheinlichsten. Dazu müssen wir die Aufsummierung der Möglichkeiten für alle möglichen euklidischen Raumzeiten durchführen, die keine Grenze haben.
Legt man die Keine-Grenzen-Hypothese zugrunde, so zeigt sich, daß man die Wahrscheinlichkeit der meisten möglichen Geschichten des Universums vernachlässigen kann, daß es aber eine bestimmte Familie von Geschichten gibt, die wahrscheinlicher sind als die anderen. Diese Geschichten kann man sich so vorstellen, als seien sie wie die Oberfläche der Erde, wobei der Abstand vom Nordpol der imaginären Zeit und die Größe eines Kreises mit gleichbleibendem Abstand vom Nordpol der jeweiligen räumlichen Ausdehnung des Universums entspricht. Das Universum beginnt als ein einzelner Punkt am Nordpol. Je weiter man sich südlich bewegt, desto größer werden die Breitenkreise mit gleichbleibendem Abstand zum Nordpol, welche die Expansion des Universums mit der imaginären Zeit repräsentieren (Abb. 26). Am Äquator würde das Universum seine maximale Größe erreichen und sich mit fortschreitender imaginärer Zeit am Südpol wieder zu einem einzigen Punkt zusammenziehen. Obwohl das Universum am Nord- und am Südpol die Größe Null hätte, wären diese Punkte keine Singularitäten, genausowenig, wie der Nord- und der Südpol der Erde singulär sind. Die Naturgesetze behalten an ihnen ihre Gültigkeit, wie dies auch am Nord- und Südpol der Erde der Fall ist.
Die Geschichte des Universums in der reellwertigen Zeit würde jedoch ganz anders aussehen. Vor ungefähr zehn bis zwanzig Milliarden Jahren hätte es eine minimale Größe gehabt, was dem maximalen Radius der Geschichte in der imaginären Zeit entspricht. Zu einem späteren reellwertigen Zeitpunkt würde sich das Universum aufblähen, wie es Linde im Modell der chaotischen Inflation vorschlägt (doch müßte man nun nicht mehr von der Annahme ausgehen, das Universum sei auf irgendeine Weise im richtigen Zustand erschaffen worden). Das Universum würde sich enorm ausdehnen und sich schließlich wieder zu einem Zustand zusammenziehen, der in der reellwertigen Zeit wie eine Singularität aussähe. In gewissem Sinne sind wir also alle immer noch vom Untergang bedroht, auch wenn wir Schwarzen Löchern aus dem Weg gehen. Nur wenn wir das Universum im Rahmen der imaginären Zeit darstellen könnten, gäbe es keine Singularitäten.
Abb. 26: Nach der «Keine-Grenzen-Bedingung» ist die Geschichte des Universums in imaginärer Zeit wie die Erdoberfläche: von endlicher Größe, aber ohne Grenze.
Wenn sich das Universum wirklich in einem solchen Quantenzustand befände, existierten keine Singularitäten in der Geschichte des Universums in imaginärer Zeit. Deshalb könnte es so aussehen, als hätten meine neueren Untersuchungen die Ergebnisse meiner früheren Arbeit über Singularitäten völlig überflüssig gemacht. Doch wie oben erwähnt, lag die wirkliche Bedeutung der Singularitätstheoreme in dem Nachweis, daß die Gravitationseffekte der Quantenmechanik nicht außer acht gelassen werden können, wenn das Gravitationsfeld extrem stark wird. Dies führte wiederum zu der Überlegung, das
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