Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
aussieht, läßt sich errechnen, indem wir die Wellen addieren, die mit allen diese Eigenschaften aufweisenden Geschichten verknüpft sind.
In der klassischen Allgemeinen Relativitätstheorie sind viele verschiedene gekrümmte Raumzeiten möglich, von denen jede einem anderen Anfangszustand des Universums entspricht. Wäre uns der Anfangszustand unseres Universums bekannt, würden wir seine ganze Geschichte kennen. Entsprechend sind in der Quantentheorie der Gravitation viele verschiedene Quantenzustände des Universums möglich.
Abermals gilt: Wüßten wir, wie sich zu früheren Zeitpunkten die euklidischen gekrümmten Raumzeiten in der Aufsummierung von Möglichkeiten verhalten haben, würden wir den Quantenzustand des Universums kennen.
In der klassischen Gravitationstheorie, die auf reellwertiger Raumzeit beruht, gibt es für das Verhalten des Universums nur zwei Möglichkeiten: Entweder es existiert seit unendlicher Zeit, oder es hat zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit mit einer Singularität begonnen. In der Quantentheorie der Gravitation ergibt sich dagegen noch eine dritte Möglichkeit. Da man euklidische Raumzeiten verwendet, in denen sich die Zeitrichtung nicht von den Richtungen im Raum unterscheidet, kann die Raumzeit endlich in der Ausdehnung sein und doch keine Singularitäten aufweisen, die ihre Grenze oder ihren Rand bilden. Die Raumzeit ist dann wie die Oberfläche der Erde, nur daß sie zwei Dimensionen mehr besitzt. Die Erdoberfläche ist endlich in der Ausdehnung, hat aber keine Grenze und keinen Rand. Wer in den Sonnenuntergang hineinsegelt, fällt von keinem Rand und trifft auf keine Singularität. (Ich muß es wissen, denn ich bin schon rund um die Welt gereist!)
Wenn euklidische Zeit in unendliche imaginäre Zeit zurückreicht oder an einer Singularität in imaginärer Zeit beginnt, stehen wir vor dem gleichen Problem wie in der klassischen Theorie, wenn wir den Anfangszustand des Universums bestimmen wollen: Gott mag wissen, wie das Universum begonnen hat, aber wir können keinen triftigen Grund für die Annahme nennen, daß dies eher auf die eine als auf die andere Weise geschehen ist. Dagegen hat die Quantentheorie der Gravitation die Möglichkeit eröffnet, daß die Raumzeit keine Grenze hat. Es wäre also gar nicht notwendig, das Verhalten an der Grenze anzugeben. Es gäbe keine Singularitäten, an denen die Naturgesetze ihre Gültigkeit einbüßten, und keinen Raumzeitrand, an dem man sich auf Gott oder irgendein neues Gesetz berufen müßte, um die Grenzbedingungen der Raumzeit festzulegen. Man könnte einfach sagen: «Die Grenzbedingung des Universums ist, daß es keine Grenze hat.» Das Universum wäre völlig in sich abgeschlossen und keinerlei äußeren Einflüssen unterworfen. Es wäre weder erschaffen noch zerstört. Es würde einfach SEIN.
Die These, daß Zeit und Raum möglicherweise eine gemeinsame Fläche bilden, die von endlicher Größe, aber ohne Grenze oder Rand ist, trug ich erstmals auf jener Konferenz im Vatikan vor, von der schon die Rede war. Mein Vortrag war jedoch ziemlich mathematisch gehalten, so daß seine Bedeutung für die Rolle Gottes bei der Schöpfung damals noch nicht allgemein erkannt wurde (von mir übrigens auch nicht). Zur Zeit der Vatikankonferenz wußte ich noch nicht, wie sich aus der «Keine-Grenzen-Hypothese» Vorhersagen über das Universum ableiten ließen. Den nächsten Sommer verbrachte ich jedoch an der University of California in Santa Barbara. Dort half mir mein Freund und Kollege Jim Hartle bei der Ausarbeitung der Bedingungen, die das Universum erfüllen muß, damit die Raumzeit keine Grenze hat. Nach Cambridge zurückgekehrt, setzte ich diese Arbeit mit meinen Doktoranden Julian Luttrel und Jonathan Halliwell fort.
Ich möchte betonen, daß die Vorstellung von einer endlichen Raumzeit ohne Grenze nur ein Vorschlag ist: Sie läßt sich von keinem anderen Prinzip ableiten. Wie jede andere wissenschaftliche Theorie mag sie ursprünglich aus ästhetischen oder metaphysischen Gründen vorgebracht worden sein, doch ihre Bewährungsprobe kommt, wenn überprüft wird, ob sie Vorhersagen macht, die mit den Beobachtungsdaten übereinstimmen. Dies läßt sich allerdings im Fall der Quantengravitation aus zwei Gründen nur schwer entscheiden. Erstens sind wir uns, wie ich im elften Kapitel erläutern werde, noch nicht ganz sicher, welche Theorie eine gelungene Verbindung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik darstellt,
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