Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
Universum könnte endlich in der imaginären Zeit sein, ohne indessen Grenzen oder Singularitäten aufzuweisen. Wenn wir jedoch in die reellwertige Zeit zurückkehren, in der wir leben, scheint es noch immer Singularitäten zu geben. Der arme Astronaut, der in ein Schwarzes Loch fällt, wird nach wie vor ein böses Ende finden; nur wenn er in der imaginären Zeit lebte, würde er auf keine Singularitäten stoßen.
Dies könnte die Vermutung nahelegen, die sogenannte imaginäre Zeit sei in Wirklichkeit die reale und das, was wir die reale Zeit nennen, nur ein Produkt unserer Einbildungskraft. In der realen, reellwertigen Zeit hat das Universum einen Anfang und ein Ende an Singularitäten, die für die Raumzeit eine Grenze bilden und an denen die Naturgesetze ihre Gültigkeit verlieren. In der imaginären Zeit dagegen gibt es keine Singularitäten oder Grenzen. So ist möglicherweise das, was wir imaginäre Zeit nennen, von viel grundlegenderer Bedeutung und das, was wir real nennen, lediglich ein Begriff, den wir erfinden, um unsere Vorstellung vom Universum zu beschreiben. Nach der Auffassung jedoch, die ich im ersten Kapitel erläutert habe, ist eine wissenschaftliche Theorie nicht mehr als ein mathematisches Modell, das wir entwerfen, um unsere Beobachtungen zu beschreiben: Es existiert nur in unserem Kopf. Deshalb ist es sinnlos zu fragen: Was ist wirklich, die «reale» oder die «imaginäre» Zeit? Es geht lediglich darum, welche von beiden die nützlichere Beschreibung ist.
Man kann auch Feynmans Pfadintegralmethode (Aufsummierung von Möglichkeiten) zusammen mit der Keine-Grenzen-These verwenden, um zu bestimmen, welche Eigenschaften des Universums wahrscheinlich zusammen auftreten. So läßt sich beispielsweise errechnen, wie wahrscheinlich es ist, daß sich das Universum zu einem Zeitpunkt, da seine Dichte den gegenwärtigen Wert aufweist, in verschiedenen Richtungen mit nahezu gleicher Geschwindigkeit ausdehnt. In den vereinfachten Modellen, die bisher untersucht wurden, erweist sich diese Wahrscheinlichkeit als sehr groß. Mit anderen Worten: Die vorgeschlagene Keine-Grenzen-Bedingung führt zu der Vorhersage, daß die gegenwärtige, in jeder Richtung nahezu gleiche Ausdehnung des Universums außerordentlich wahrscheinlich ist. Dies deckt sich mit den Beobachtungen des Mikrowellen-Strahlungshintergrundes, der fast genau die gleiche Intensität in allen Richtungen zeigt. Wenn sich das Universum in einigen Richtungen rascher ausdehnt als in anderen, würde die Strahlung in diesen Richtungen durch eine zusätzliche Rotverschiebung gemindert.
Gegenwärtig werden weitere Vorhersagen der Keine-Grenzen-Bedingung ausgearbeitet. Ein besonders interessantes Problem ist die Größe der kleinen Abweichungen von der gleichförmigen Dichte im frühen Universum, die zunächst zur Entstehung der Galaxien, dann der Sterne und schließlich unserer Art führten. Der Unschärferelation zufolge kann das frühe Universum nicht völlig gleichförmig gewesen sein, weil es einige Ungewißheiten oder Fluktuationen in den Positionen und Geschwindigkeiten der Teilchen gegeben haben muß. Wenn wir von der Keine-Grenzen-Bedingung ausgehen, stellen wir fest, daß das Universum mit der kleinstmöglichen Nichteinheitlichkeit begonnen haben muß, die von der Unschärferelation zugelassen wird. Danach war das Universum, wie in den Inflationsmodellen, einer Phase rascher Expansion unterworfen. Während dieser Phase, so ergibt sich aus unserem Ansatz, haben sich die anfänglichen Inhomogenitäten verstärkt, bis sie groß genug waren, um die Entstehung der Strukturen zu erklären, die wir um uns her wahrnehmen. 1992 hat der Satellit Cosmic Background Explorer (COBE) erstmals sehr geringfügige richtungsspezifische Intensitätsschwankungen im Mikrowellenhintergrund entdeckt. Die Art, wie diese Nichtgleichförmigkeiten von der Richtung abhängen, scheint sich mit den Vorhersagen des Inflationsmodells und der Keine-Grenzen-Bedingung zu decken. Damit hat sich die Keine-Grenzen-Hypothese als gute Theorie im Sinne Karl Poppers erwiesen: Sie hätte durch die Beobachtungen falsifiziert werden können, wurde aber statt dessen in ihren Vorhersagen bestätigt. In einem expandierenden Universum, in dem die Dichte der Materie von Ort zu Ort leichten Schwankungen unterworfen war, verlangsamte sich in den dichteren Regionen infolge der Gravitation die Expansionsbewegung und ging in Kontraktion über. Dies führte zur Bildung von Galaxien, Sternen und
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