Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
auszudehnen. Bei dieser Expansion nahm die Feldenergie der Regionen langsam ab, bis aus der inflationären Aufblähung eine Expansionsbewegung wurde, wie sie im Modell des heißen Urknalls vorliegt. Eine dieser Regionen, so Linde, wurde zu dem, was wir heute als beobachtbares Universum vor Augen haben. Dieses Modell hat alle Vorteile der vorangegangenen Inflationsmodelle, beruft sich aber nicht auf einen zweifelhaften Phasenübergang und kann darüber hinaus einen vernünftigen Wert für die Temperaturschwankungen des Mikrowellenhintergrundes angeben, der sich mit den Beobachtungen deckt.
Diese Arbeit über Inflationstheorien zeigte, daß sich das Universum in seinem gegenwärtigen Zustand aus einer recht großen Zahl verschiedener Anfangszustände hätte entwickeln können. Das ist wichtig, weil daraus hervorgeht, daß der Anfangszustand des von uns bewohnten Teils des Universums nicht mit großer Sorgfalt ausgewählt werden mußte. Deshalb können wir uns, wenn wir es möchten, des schwachen anthropischen Prinzips bedienen, um zu erklären, warum das Universum heute so aussieht und nicht anders. Andererseits ist es nicht möglich, daß jeder Anfangszustand zu einem Universum geführt hätte, wie wir es heute beobachten. Dies läßt sich nachweisen, indem man für das gegenwärtige Universum einen ganz anderen Zustand annimmt, sagen wir, einen sehr klumpigen und unregelmäßigen. Mit Hilfe der Naturgesetze läßt sich seine Entwicklung zurückverfolgen und sein Zustand in früheren Zeiten bestimmen. Nach den Singularitätstheoremen der klassischen Allgemeinen Relativitätstheorie hätte es auch in diesem Fall eine Urknall-Singularität gegeben. Lassen wir ein solches Universum nach den gleichen Gesetzen eine Entwicklung in der Zeit vorwärts durchlaufen, so gelangen wir zu einem ebenso klumpigen und unregelmäßigen Zustand wie dem, mit dem wir begonnen haben. Es muß also Anfangszustände geben, die nicht zu einem Universum geführt hätten, wie wir es heute beobachten können. Also verrät uns auch das Inflationsmodell nicht, warum der Anfangszustand nicht so beschaffen war, daß er etwas ganz anderes hervorgebracht hätte, als wir es beobachten. Müssen wir auf das anthropische Prinzip zurückgreifen, um eine Erklärung zu bekommen? War alles nur ein glücklicher Zufall? Das käme einem Offenbarungseid gleich, einem Abschied von unserer Hoffnung, wir könnten die dem Universum zugrundeliegende Ordnung verstehen.
Um vorhersagen zu können, wie das Universum begonnen hat, brauchen wir Gesetze, die auch für den Anbeginn der Zeit gelten. Wenn die klassische Allgemeine Relativitätstheorie richtig ist, so folgt aus den Singularitätstheoremen, die Roger Penrose und ich bewiesen haben, daß der Anfang der Zeit ein Punkt von unendlicher Dichte und unendlicher Krümmung der Raumzeit war. Alle bekannten Naturgesetze würden an einem solchen Punkt ihre Gültigkeit verlieren. Man könnte annehmen, daß sich neue Gesetze finden lassen, die auch für Singularitäten gelten, doch es wäre sehr schwer, Gesetze für Punkte mit so extremen Eigenschaften auch nur zu formulieren, und unsere Beobachtungen würden uns keinerlei Hinweis auf die mögliche Beschaffenheit solcher Gesetze geben. Indes, eines läßt sich den Singularitätstheoremen entnehmen: Das Gravitationsfeld wird so stark, daß Quantengravitationseffekte Bedeutung gewinnen. Wir befinden uns an einem Punkt, wo die klassische Theorie keine brauchbare Beschreibung des Universums mehr liefert. Wir müssen uns also einer Quantentheorie der Gravitation bedienen, um die sehr frühen Stadien des Universums zu erörtern. Wie noch zu zeigen sein wird, bleiben die herkömmlichen Naturgesetze in der Quantentheorie überall, auch am Anfang der Zeit, gültig: Man braucht für Singularitäten keine neuen Gesetze zu postulieren, weil in der Quantentheorie keine Singularitäten erforderlich sind.
Noch gibt es keine vollständige und widerspruchsfreie Theorie, in der Quantenmechanik und Gravitation zusammengefaßt wären. Wir wissen jedoch mit ziemlicher Sicherheit von einigen Eigenschaften, die eine solche vereinheitlichte Theorie haben müßte. Zum einen müßte sie Feynmans Vorschlag aufgreifen, die Quantentheorie als «Aufsummierung von Möglichkeiten» zu formulieren. Nach diesem Ansatz hat ein Teilchen nicht nur eine einzige Geschichte, wie es in einer klassischen Theorie der Fall wäre, sondern man geht davon aus, daß es jedem möglichen Weg in der Raumzeit folgt. Mit jeder
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