Eine kurze Weltgeschichte fuer junge Leser
angehören durfte. Das waren die Parias. Man überließ ihnen nur die
schmutzigsten und unangenehmsten Arbeiten. Niemand, auch kein Mitglied einer
unteren Kaste, durfte mit ihnen zusammen sein. Schon ihre Berührung, so hieß
es, beschmutzte. So hießen sie die Unberührbaren. Sie mussten sogar achtgeben,
dass nicht einmal der Schatten ihres Körpers auf einen anderen fiel. Denn schon
ihr Schatten galt als besudelnd: So grausam können die Menschen sein.
Dabei waren die Inder sonst kein grausames Volk. Im Gegenteil. Ihre
Priester waren sehr ernste, tiefe Menschen, die sich oft in die einsamen Wälder
zurückzogen, um dort in aller Ruhe über die schwersten Fragen nachdenken zu
können. Über ihre vielen wilden Götter haben sie nachgedacht und über Brahma,
den Erhabenen, den höchsten Gott. Sie haben gefühlt, wie das ganze Leben in der
Natur, die Götter wie die Menschen, die Tiere wie die Pflanzen, vom Atemhauch
dieses einen höchsten Wesens leben, wie dieses eine höchste Wesen in allem
gleichmäßig wirkt: im Licht der Sonne und im Sprießen des Feldes, im Wachsen
und im Sterben. Gott ist überall in der Welt, so wie ein Salzkorn, das du ins
Wasser wirfst, überall im Wasser ist und jeden Tropfen salzig macht. All die
Verschiedenheiten, die wir in der Natur sehen, alles Kreisen und Wechseln ist
eigentlich nur oberflächlich. Dieselbe Seele kann einmal zu einem Menschen werden
und nach dessen Tod vielleicht zu einem Tiger oder einer Brillenschlange, außer
wenn sie so geläutert ist, dass sie endlich mit dem göttlichen Wesen eins
werden kann. Denn das bleibt immer das Wesentliche, was in alledem wirkt: der
Atemhauch des höchsten Gottes Brahma. Um ihren Schülern das richtig
einzuprägen, haben die indischen Priester eine schöne Formel gehabt, über die
du nachdenken kannst, sie heißt einfach: »Das bist du« und bedeutete eben:
Alles, was du siehst, die Tiere und die Pflanzen sowie deine Mitmenschen, sie
sind dasselbe, was auch du bist: ein Hauch vom Atemzug Gottes.
Um diese große Einheit recht zu fühlen, hatten sich die indischen
Priester einen merkwürdigen Weg ausgedacht. Sie setzten sich irgendwohin in den
dichten Urwald und dachten nur darüber nach: stundenlang, tagelang, wochenlang,
monatelang, jahrelang. Sie saßen immer steif und still auf der Erde, mit
gekreuzten Beinen und gesenktem Blick. Sie atmeten möglichst wenig und aßen
möglichst wenig. Ja, manche von ihnen quälten sich noch auf besondere Weise, um
Buße zu tun und um reif zu werden, Gottes Hauch in sich zu spüren.
Solche heiligen Männer, Büßer und Einsiedler, gab es in Indien vor
3000 Jahren sehr viele und gibt es auch heute noch. Aber einer von ihnen war
anders als die vielen anderen. Das war der Königssohn Gautama, der ungefähr um
500 vor Christi Geburt lebte.
Man erzählt, dass dieser Gautama, den man später den »Erleuchteten«,
den Buddha, nannte, in aller Pracht und allem Reichtum des Ostens aufgewachsen
sei. Er soll drei Paläste gehabt haben, einen für den Sommer, einen für den
Winter und einen für die Monate der Regenzeit, wo immer die lieblichste Musik
ertönte und den er nie verließ. Sein Vater wollte nicht, dass er je vom Söller
herabstieg, denn er wollte alles Traurige von ihm fernhalten. Darum durfte sich
kein Leidender in seiner Nähe zeigen. Und doch, als Gautama aus seinem Palaste
ausfuhr, sah er einmal einen alten, gebeugten Mann. Er fragte den Wagenlenker,
der ihn begleitete, was das sei. Der musste es ihm erklären. Nachdenklich
kehrte er heim in seinen Palast. Ein andermal sah er einen Kranken. Auch von
Krankheit hatte man ihm nie erzählt. Noch nachdenklicher geworden, kehrte er
heim zu seiner Gattin und zu seinem kleinen Sohn. Ein drittes Mal sah er einen
Toten. Da wollte er nicht mehr in den Palast zurück, und als er schießlich
einen Einsiedler sah, beschloss er, selbst in die Einöde zu gehen und über das
Leid dieser Erde nachzudenken, das sich ihm in Alter, Krankheit und Tod
offenbart hatte.
»Und ich zog«, so erzählte er in einer seiner Predigten, »noch in
frischer Blüte, glänzend, dunkelhaarig, im Genusse glücklicher Jugend, im
ersten Mannesalter, gegen den Wunsch meiner weinenden und klagenden Eltern, mit
geschorenem Haar und Bart, mit fahlem Gewande bekleidet, vom Hause fort in die
Hauslosigkeit hinaus.«
Sechs Jahre lebte er als Einsiedler und Büßer. Er dachte tiefer nach
als alle anderen. Er quälte sich härter als je einer zuvor. Er atmete fast gar
nicht mehr, wenn er so
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