Eine lange dunkle Nacht
John lag seit einigen Tagen im Krankenhaus, kletterte er um neun Uhr aus dem Bett und suchte ein unbeaufsichtigtes Schwesternzimmer. Er wartete nicht bis später, weil er wußte, daß um neun Uhr Schichtwechsel war, und das wollte er sich zunutze machen. Im Krankenhaus konnte man überall Medikamente stehlen. John wollte nichts Hartes, nur irgend etwas, um endlich schlafen zu können. Das war nicht zuviel verlangt, aber die Schwestern auf seiner Station weigerten sich, ihm etwas Stärkeres als Tylenol zu geben. Was war Tylenol für einen Heroinsüchtigen? Es war so, als fütterte man einen hungrigen Tiger mit Keksen.
John fand keine Medikamente. Er hatte erst zwei Stockwerke abgesucht, als er am anderen Ende eines Korridors eine Krankenschwester erblickte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und wartete auf den Fahrstuhl. Es schien, als hätte sie Feierabend. Selbst von hinten kam sie John bekannt vor. Er ging etwas näher heran und klammerte sich an einen Wäschekorb, damit er nicht umkippte. Eigentlich hätte er gar nicht aufstehen dürfen. Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und heraus trat ein ungefähr fünfundzwanzigjähriger Mann mit einem etwa fünf Jahre alten Jungen. Die Krankenschwester stieß einen Freudenschrei aus. Anscheinend war sie überrascht, daß die beiden sie abholten. Der kleine Junge rannte auf die Krankenschwester zu, rief ›Mutti, Mutti‹, und als der Mann sie erreichte, umarmte er die Frau und küßte sie innig.
Als der Mann sie losließ, sah John das Gesicht der Krankenschwester. Er erkannte es sofort. Es war Candy. John wäre beinahe tot umgefallen. Ich meine, er war sowie kurz vorm Abnippeln, und in diesen zwei Sekunden kam er dem Tod ein großes Stück näher. Das Herz wollte ihm brechen. Candy, sein Mädchen, in den Armen irgendeines Schwachkopfes. Und dann auch noch mit einem Kind! Unentwegt starrte John auf den Jungen. Er sah aus wie sein Kind, wirklich. Mit Sicherheit sah er nicht so aus, als wäre er der Sohn dieses blonden Gorillas, den Candy gerade geküßt hatte. John wurde von dem bestürzenden Gefühl übermannt, daß ihm, ohne es zu wissen, seine Familie gestohlen worden war. Er sackte gegen die Wand. Es war ein Wunder, daß er nicht zusammenbrach.
Plötzlich drehte sich Candy um und starrte in seine Richtung – doch sie sah ihn nicht. Sicher, sie sah einen Patienten, einen sehr kranken jungen Mann. Aber sie sah nicht John. Er hätte unsichtbar sein können, so unsichtbar, wie er in all den letzten Jahren gewesen war. Candy kam ein paar Schritte auf ihn zu. Sie war vielleicht zwanzig Meter entfernt.
›Brauchen Sie Hilfe?‹ rief sie.
John lief eine Träne übers Gesicht. Er schüttelte den Kopf.
›Legen Sie sich wieder hin‹, rief Candy. ›Es wird Ihnen gleich besser gehen.‹
John nickte. Candy wandte sich um und verschwand mit ihrer Familie im Fahrstuhl. Er fand, die drei sahen glücklich aus.
John schleppte sich in sein Zimmer zurück und zog die Sachen an, die er getragen hatte, als er ins Krankenhaus gekommen war. Er verließ das Gebäude, ohne sich abzumelden. Der abendliche Himmel war wolkenverhangen. Sein Auto stand auf dem Parkplatz. Es war eine wertlose Schrottschüssel, das einzige, was ihm auf der Welt noch geblieben war. Nicht einmal mehr seine Erinnerung hatte er. Candy hatte sie ihm gestohlen, sie in Trauer verwandelt. Sie hatte nicht auf ihn gewartet. Es klingt verrückt, aber tief in seinem Herzen hatte er immer geglaubt, daß er eines Tages wieder mit Candy zusammenkommen würde. Sobald er sein Leben wieder im Griff hatte. Doch das war jetzt unmöglich. Sein Leben war vorbei dies hatte er deutlich gespürt, als er Candys wunderschönes Gesicht am Ende des Korridors erkannt hatte. Yeah, nach all den Jahren war sie noch immer wunderschön, und er war ein Wrack, eine wandelnde Leiche kurz vorm Verrecken.
John brauchte dringend einen Schuß, um alles in der Welt. Er fuhr zu seinem Dealer, doch das Arschloch weigerte sich, ihm Heroin zu geben. Erst wollte er Bares sehen. Und John hatte keinen müden Cent. Er flehte, bettelte ihn an – es war so, als würde man den Teufel bitten, das Thermostat herunterzudrehen.
Zumindest tat der Kerl etwas, das John nicht erwartet hatte. Er verließ den Raum und kam kurz darauf mit einem gestohlenen Revolver zurück, den er John in die Hand drückte. John starrte die Waffe an. Er hatte noch nie eine Kanone benutzt, und heute war kein guter Zeitpunkt, um damit anzufangen. Seine Hände zitterten, die gesunde ebenso
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