Eine lange dunkle Nacht
Studium fortzusetzen. Anfangs war dies natürlich unmöglich – Johnny beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit –, und sie mußte weiterhin von Sozialhilfe leben und zu Hause in ihrem Mini-Apartment bleiben. In dieser Zeit zeichnete sie viel, hauptsächlich Skizzen von ihrem Sohn.
Einen Photoapparat, mit dem sie Bilder von Johnny hätte machen können, konnte sie sich nicht leisten. Sie weigerte sich, andere Leute – zum Beispiel Henry oder ihre Eltern – um Hilfe bitten; sie wollte keine Almosen. Von Sozialhilfe zu leben war für sie das Letzte, und sie hörte so bald wie möglich damit auf. Es war für sie wichtig, auf eigenen Beinen zu stehen. Es kam ihr so vor, als hätte ihre Abhängigkeit von John auf der Highschool zu all dem Elend in ihrer beider Leben geführt. Wo John steckte, wie es ihm ging – sie hatte keinen blassen Schimmer. Sie hatte nochmals versucht ihn zu finden, vergeblich. Tief in ihrem Herzen wußte sie jedoch, daß es John nicht gutging. Wenn sie ihren Sohn in den Armen hielt, war es beinahe so, als könne sie Johns Schmerzen spüren.
Candy hatte die Idee, Ärztin zu werden, aufgegeben, und wegen Johnny erschien es ihr zu riskant, ihren Lebensunterhalt als Künstlerin zu bestreiten. Als Johnny anderthalb war, also alt genug, um ihn einem Babysitter anzuvertrauen, nahm sie in einem nahe gelegenen Restaurant einen Job als Kellnerin an und besuchte die Abendvorlesungen an der Universität von Oregon. Ihre Zeit in Berkeley wurde anerkannt, und sie. nahm sich vor, an der Universität ein Ausbildungsprogramm für Krankenschwestern zu absolvieren. Zwischen Ärztin und Krankenschwester lag natürlich ein himmelweiter Unterschied, was Candy jedoch egal war, da sie immer noch kranken Menschen helfen konnte. Außerdem wußte sie, daß sich Krankenschwestern die Arbeitszeit frei einteilen konnten. Es war beispielsweise möglich, drei Zwölf-Stunden-Schichten nacheinander zu arbeiten und den Rest der Woche freizunehmen. Dies erschien Candy perfekt, da sie auf diese Weise gut verdienen und gleichzeitig ihren Sohn aufwachsen sehen würde. Candy schaffte es, nach nur einem Jahr regulärer Vorlesungen zur Schwesternausbildung zugelassen zu werden. Der Unterricht war anstrengend, besonders da sie wegen ihres Jobs und wegen Johnny ständig müde war. Als Kellnerin verdiente sie kaum mehr, als ihr das Sozialamt gezahlt hatte, aber sie war stolz, auf eigenen Beinen zu stehen.
Die Ausbildung dauerte zwei Jahre, und Candy hielt durch. Bei der Abschlußprüfung zählte sie nicht gerade zu den Besten, genau gesagt, sie wäre in einigen Fächern beinahe durchgefallen, doch bei der anschließenden Jobsuche beobachtete man die Noten kaum. Immerhin war sie jetzt eine staatlich geprüfte Krankenschwester, und in den Krankenhäusern herrschte Personalmangel. Sie fand fast umgehend eine Anstellung, und zum ersten Mal seit langem verdiente sie richtiges Geld für sich und ihren Sohn, der mittlerweile fast alt genug für den Kindergarten war.
Als erstes kaufte Candy ein Auto. In den letzten drei Jahren war sie mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren. Sie war gut in Form, aber sie vermißte es, gemütlich im Wagen zu sitzen und unterwegs Musik zu hören. Der Wagen war nichts besonderes – irgendein japanischer Gebrauchter – ihr gefiel er. Johnny auch. Er liebte es, sich auf dem Beifahrersitz durch die Stadt kutschieren zu lassen und die verschiedenen Gebäude zu benennen. Für sein Alter hatte er einen erstaunlichen Wortschatz, und er war schlau wie ein Fuchs – Candy nahm an, er sei derjenige, der einmal Arzt werden würde, und fortan nannten sie ihn nur noch Doc, worüber er jedesmal herzhaft lachte.
Als sie einmal ihre Eltern in L.A. besuchte – was äußerst selten vorkam –, lernte sie einen Mann kennen. Er war nicht Arzt, sondern Hausmeister an einer Highschool.
Klingt vielleicht nicht gerade toll, aber er war toll. Er hieß Clyde, und er war beinahe genauso wild wie dereinst John. Sie mochte ihn auf Anhieb, und er verliebte sich Hals über Kopf in sie. Sie lernten sich in einem Park in der Nähe ihres Elternhauses kennen. Candy war mit Johnny dort hingegangen, um einen Drachen steigen zu lassen. Clyde jagte die Enten am Teich. Er sagte, seine Nichte wolle eine zum Geburtstag, und bei Gott, sie würde eine bekommen. Sie fingen natürlich keine Ente, und Johnny überließ seinen Drachen dem Wind und den Wolken. Clyde ließ sich ihre Telefonnummer geben und rief sie noch am selben Abend an. Sie gingen essen
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