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Eine lange dunkle Nacht

Eine lange dunkle Nacht

Titel: Eine lange dunkle Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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und ins Kino und trafen sich am nächsten Abend gleich wieder. Sie war erst wenige Tage zurück in Oregon, als Clyde vor ihrer Wohnungstür stand. Er meinte, er sei zufällig in der Gegend.
    Clyde machte Candy unermüdlich den Hof. Jedes Wochenende fuhr er von L.A. nach Portland hoch, um sie zu besuchen. Er meinte es ernst. Nach drei Monaten fragte er sie, ob sie seine Frau werden wolle. Candy mußte bei der Frage lachen – sie glaubte, er machte einen Witz. Doch am nächsten Tag schenkte er ihr einen Diamantring. Sie fürchtete sich davor, ihn anzunehmen. Sie mochte Clyde, vielleicht liebte sie ihn sogar, doch ihr ging alles viel zu schnell. Sie sagte ihm, sie bräuchte mehr Zeit. Aber überraschenderweise schaffte er es, Candy zu überreden, nach L.A. zurückzuziehen. In letzter Zeit war Candy ihren Eltern wieder nähergekommen. Die beiden liebten Johnny, und Candy fand, daß es unfair sei, ihnen ihr einziges Enkelkind ständig vorzuenthalten. Oregon war zwar schön, aber eben nicht ihre Heimat. Candy war ein Mädchen aus L.A., trotz des Smogs, trotz des Verkehrschaos und trotz all der anderen Probleme.
    Sie zog zurück und nahm sich eine eigene Wohnung, obwohl Clyde heftig dagegen protestierte. Er wollte, daß sie bei ihm einzog. Sie konnte nicht, begann jedoch ernsthaft über seinen Heiratsantrag nachzudenken. Clyde hatte nicht vor, für den Rest seines Lebens Hausmeister zu bleiben. Jetzt, wo er nicht länger nach Portland fahren mußte, um Candy zu sehen, arbeitete er nur noch tagsüber und besuchte abends einen Fortbildungskurs. Er wollte Lehrer werden. Er liebte es, mit Kindern zu arbeiten. Mit Johnny verstand er sich großartig. Candy sah den beiden immer beim Spielen zu, und sie fragte sich, warum sie noch zögerte. Es dauerte nicht lange, bis ihr klar wurde, warum. Sie liebte Clyde nicht so, wie sie John geliebt hatte. Es war dasselbe wie mit Henry.
    Aber Candy dachte nicht an John, als sie in jener Nacht losfuhr, um Zigaretten zu holen. Clyde übernachtete bei ihr. Sie war abends um neun von der Arbeit gekommen und hatte sich danach mit Clyde Videos angesehen. Mittlerweile war es ungefähr ein Uhr früh. Johnny schlief schon lange. Clyde ging nicht mit, weil er auf Johnny aufpassen wollte und weil er es nicht gut fand, daß sie rauchte. Er sagte immer: ›Du bist Krankenschwester und weißt, was diese Dinger deiner Lunge und deinem Herzen antun.‹ Doch Candy rauchte schon seit der Highschool, und selbst John hatte sie nicht davon abbringen können.
    Damals war Candy seit drei Monaten zurück in L.A. Sie hatte eine exzellente Stellung in einem nur drei Kilometer von ihrer Wohnung entfernten Krankenhaus. Es war eine verregnete Nacht, und sie war müde, aber zufrieden. Genau gesagt dachte sie während der Fahrt zu dem Laden, daß sich ihr Leben endlich zum Guten gewendet hatte. Sie war finanziell abgesichert und hatte einen Mann, der sie liebte. Ihr Sohn war gesund: Sie zählte alles Schöne auf, mit dem ihr Leben gesegnet war. Aber Segnungen sind keine Goldmünzen, die man zählen kann und danach in einen Tresor legt, wo sie für immer auf einen warten. Das Schicksal ist wie ein Gummiball, der immer wieder zurückgesprungen kommt, bis man ihn plötzlich nicht zu fassen kriegt und ihn verliert. Und Candy sollte in dieser Nacht etwas verlieren, nur wußte sie es noch nicht.
    Sie parkte vor dem Laden. Sie war schon oft zu dieser späten Stunde dort gewesen, meistens, um Zigaretten zu kaufen oder zu tanken. Der Laden hatte die ganze Nacht geöffnet. Sie stieg aus dem Wagen und lief rasch zur Eingangstür – es goß in Strömen, und sie wollte nicht naß werden. Erst als sie die Tür erreichte und gerade die Klinke herunterdrücken wollte, hob sie den Blick und sah den Mann, der dem Ladenbesitzer einen Revolver an die Schläfe hielt. Ihr stockte der Atem. Sie wußte, daß sie einfach flüchten und die Polizei rufen konnte. Aber sie blinzelte mehrmals und sah genauer hin. Der Mann kam ihr bekannt vor. Es war John, ihre verlorene Liebe. John war dabei, den Laden auszurauben. Das ist schrecklich, dachte sie, das muß ein Irrtum sein. Sie öffnete die Tür und ging hinein.«
    »Warte«, fiel Free ihr ins Wort.
    »Wieso?« fragte Poppy.
    »Ja, wieso?« fragte Teresa. Sie wollte endlich das Ende der Geschichte hören; sie hatte so lange darauf gewartet. Die Geschichte lenkte sie von ihrer Übelkeit und von ihrem pochenden Handgelenk ab. Es brannte fürchterlich, so, als hätte sie ätzende Säure darüber gegossen.

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