Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
gesteht aus lauter Angst, dass dies ihr Kind sei, obwohl sie es nie gesehen haben kann, denn sie hat es abends in völliger Dunkelheit geboren.
Der Prozess – alles in ihm hatte seine »Ordnung« – entsprach dem Wertesystem der patriarchalisch-hierarchischen Frankfurter Gesellschaft um 1772. Außer dem Verteidiger scheint niemand zu psychologischer Einfühlung noch zu einer realitätsgerechten Einschätzung der Situation fähig zu sein. Alle anderen, natürlich ausschließlich Männer, die den Prozess leiten und die schließlich das Urteil fällen, sind – nach damaligen Maßstäben – »korrekt«, kommen aber überhaupt nicht auf den Gedanken, die psychische und soziale Situation der Angeklagten zu berücksichtigen. Der Verteidiger, der in seiner Verteidigungsschrift darauf aufmerksam macht, dass es keineswegs sicher ist, ob das Kind lebend geboren wurde, auch nicht, ob es während der Geburt starb oder zumindest lebensschwach war, ist in seiner Argumentation als Einziger ein Mensch der Neuzeit. Die übrigen Männer, die den Prozess führen, gehen zwar pedantisch genau vor, schrecken aber vor keiner Grausamkeit zurück, wenn denn nur die Wahrheit, so wie sie sie sehen, ans Licht kommt.
Dass das Bekenntnis unter Druck zustande gekommen ist und manches davon nicht stimmt, kann der Verteidiger aufzeigen. Die Angeklagte hat zum Beispiel nicht, wie zunächst zugegeben, ihr Kind mit der Schere verletzt. »Sie scheint«, so der Verteidiger, »überhaupt zu denjenigen Personen zu gehören, welche in Hoffnung der dadurch zu erlangenden milderen Strafe alles gestehen, worüber sie gefragt werden.« Ich gebe einen kurzen Ausschnitt aus der Verteidigungsschrift wieder: »Die Schmerzen vermehren sich, die Wehen nehmen überhand, sie nähert sich dem einer Sinnlosigkeit nicht unähnlichem Zustand einer Gebärerin, verbirgt sich in der Waschküche, wohin sie vorher schon mit der Asche zu gehen willens war, und verübt daselbst auf Eingeben des Satans die unglückliche Tat, welche sie bald nach der Hand so sehr bereuet und noch jetzt Tag und Nacht beseufzet. Man muß die unglückliche Situation, worin sich die Inquisitin befunden, in ihrem völligen Umfang überdenken, um sich die leichte Möglichkeit ihres Verbrechens … begreiflich zu machen. Von ihrer Brotherrin verstoßen, in der äußersten Armut, denn 30 Kreuzer machten nebst sehr wenigen schlechten Kleidungsstücken ihre ganze Habseligkeit aus: Unwissend, wer ihr Schwängerer war und außer Stande, solchen auszukundschaften, um von ihm den Unterhalt des Kindes zu erlangen, unvermögend, solches selbst zu ernähren: Der Schande und Verachtung der Welt bloßgestellt.« [58]
Der Verteidiger ist der Einzige, der von dem Mann spricht, der sie verführt hat. Von den Anklägern im Prozess nimmt niemand diesen Hinweis auf. Das Unglück, die absolute Hilflosigkeit, die totale Verlassenheit von Susanna Margaretha wird sonst in den Prozessakten nirgendwo erwähnt, auch nicht, dass sie freiwillig aus Mainz nach Frankfurt zurückkehrt, kein lasterhaftes Leben – wie es heißt – geführt hat und dass hier eigentlich nichts als Mitleid angebracht wäre.
Für das Gericht stand ausschließlich fest, dass hier eine Mutter zu richten ist, die ihr neugeborenes Kind umgebracht hat. Darauf steht die Todesstrafe, mildernde Umstände werden nicht in Erwägung gezogen. Der als »unbestechlich« bezeichnete Gerechtigkeitssinn der vier Syndici, die den Urteilsspruch zu fällen haben, ist immun gegen die Verzweiflung, in der die Beschuldigte sich befunden hat. Deren reale Situation zu begreifen sind sie außerstande. Für sie steht von vornherein fest: die gerechte Strafe für Kindsmord ist nur die Todesstrafe. Entsprechend bestrafen auch die zwei anderen Exekutionen im Frankfurt des 18. Jahrhunderts, 1745 und 1748, Kindsmörderinnen, die offenbar ein ähnliches Schicksal erlitten wie Margaretha. Dass in einer patriarchalischen Gesellschaft, die zudem eine ausgesprochene Klassengesellschaft war, eine junge Frau der unteren Schicht, völlig mittellos, der Schande einer unehelichen Geburt ausgesetzt, sich in einer Situation befand, die sie nicht zu bewältigen vermochte, darüber wird also kein Wort verloren, und kein Gefühl des Mitleids kommt auf. Frauen haben ihre Kinder in die Welt zu setzen, unter welchen Umständen auch immer, die Schuld der Männer bleibt unerwähnt. Wo kämen wir hin, wenn Frauen selber darüber entscheiden, ob sie ein Kind gebären wollen oder nicht. In solchen
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