Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Prozessen sind Männer bewusst oder unbewusst damit konfrontiert, dass über ihr Leben letztlich immer eine Frau entscheidet. Vielleicht sind sie auch deswegen unfähig, Mitleid für Margaretha zu empfinden.
Das Gericht bestand selbstverständlich nur aus Männern. Darauf, die Situation der Frau in dieser Gesellschaft kritisch und anklagend darzustellen, kommt nicht einmal der Verteidiger. Seine Argumente zugunsten seiner Mandantin werden als nebensächlich und nicht stichhaltig abgetan. Die Angeklagte hat gestanden und damit basta, eine gnädige Beurteilung ihres Falles kann überhaupt nicht in Erwägung gezogen werden. Syndicus Lauz, einer der vier Syndici, die das Urteil zu begründen und zu fällen haben, »kommt in seiner vom 23. Dezember 1771 datierten Begründung zu folgendem Schluss: ›Es bleibet also allemal richtig, daß Inquisitin ihre Schwangerschaft und Geburt verwegen und vorsätzlich verheimlichet, ihr lebendig gebohrnes und dafür überzeugend gehaltenes Kind mit Ausübung unmenschlicher Gewalt umgebracht habe, und daß sie dafür die in der Carolina verordnete poena ordinariam nicht nur verdienet, sondern auch diese Strafe noch zu schärfen bewegende Ursachen vorliegen. Weil aber doch dieselbe freywillig ihre böse Tat bekannt und dadurch die Untersuchung der Sache sehr erleichtert, und weil vielleicht ratione vitalitatis einiger Zweifel noch vorzuwalten scheinen möchte, und deswegen die Bekänntnuß der Inquisitin nur dahin anzunehmen seyn dürfte, daß, wie der Herr Defensor selbsten solches ausleget, das Kind nur schwach gelebet habe; so wolte ich in diesem Betracht dahin antragen, daß Inquisitin nur mit dem Schwerd vom Leben zum Tod gebracht werde.‹ [59] Die drei anderen Syndici stimmen mit diesem Urteil uneingeschränkt überein.
Susanna Margaretha ist also ein Opfer der Vorurteile, der Einfühlungslosigkeit, der Frauenverachtung einer ungebrochen patriarchalischen Zeit geworden. Im Vorwort des Buches über die Prozessakten schreibt der Verfasser Siegfried Birkner: »Die Argumente des Verteidigers, die Angst und Reue des hilflosen Mädchens, ihr Zusammenbruch bei der Urteilsverkündung, ihr Gnadengesuch ›da sie noch so jung sei‹, das alles kann die gestrengen Herren Syndiker und den Rat der Stadt nicht rühren.« Der Autor fügt hinzu: »Wie in der griechischen Tragödie die Macht der Götter vorgeführt wurde, so läßt sich an diesem Prozeß die Machtvollkommenheit der herrschenden Klasse zeigen, die im eigenen und göttlichen Namen den Urteilsspruch über ein einfaches Menschenkind fällt, dem das Wissen und die Chancen seiner Zeit vorenthalten wurden.« [60]
Zur gleichen Zeit, im Jahre 1772, schließt in Frankreich Denise Diderot das umfangreiche Werk der Aufklärung, die Enzyklopädie, mit dem letzten der 28 Bände ab. Die Revolution des dritten, des bürgerlichen Standes von 1789 ist damit eingeleitet. In Frankfurt scheint man von diesen Ereignissen nicht allzu viel zu wissen. Das Gefühl, dass das Mittelalter dort noch vorherrscht, überkommt einen immer wieder beim Lesen der Prozessakten. Für die privilegierten bürgerlichen Schichten ist Frankfurt eine reiche Stadt. Die Heuchelei und die Vorurteile dieser Schichten waren, wie aus den Akten unschwer zu erschließen ist, ungebrochen und von Aufklärung und Selbstkritik unberührt. Die Menschen der unteren Schicht im Frankfurt am Ende des 18. Jahrhunderts nehmen dementsprechend ihr trostloses Dasein gottergeben und geduldig an, darin von den Herrschenden wohlwollend unterstützt. Wer zu den Unterprivilegierten gehörte, noch dazu als Frau, konnte in schwierigen oder tragischen Situationen mit keinerlei Mitleid oder Gefühlen der Gerechtigkeit rechnen.
Goethe war Zeitzeuge des Prozesses und der Hinrichtung der jungen Margaretha. Die Rolle des Gretchens im Faust lässt sich auf sein Miterleben dieser tragischen Ereignisse zurückführen, auch wenn die Darstellung des Lebens seines Gretchens mit dem der Dienstmagd Susanna Margaretha wenig Ähnlichkeit hat. Sein erster dramatischer Entwurf, der Urfaust , entstand nach der Hinrichtung von Margaretha Brandt, zwischen 1772 und 1775.
Wie wird heute mit Kindsmörderinnen, mit einem Gretchen unserer Zeit, umgegangen? Vor einigen Tagen las ich in der Süddeutschen Zeitung die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Neugeborenes aus dem Fenster geworfen hat. Auch sie, in panischer Angst, den Ruf ihrer Familie mit Schmutz und Schande zu besudeln und dafür mit dem gesellschaftlichen Tode
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