Eine Meerjungfrau am Haken
Kilometer von der Stadt entfernt und schon mussten sie durch einen dichten Wald, in dem die Anwesen der wohlhabenden Bürger von Westbridge verborgen lagen.
Vor mehr als zwei Jahrhunderten hatten sich die Aristokraten und Geschäftsleute, die Westbridge gründeten, ihre Paläste in diesen Bergen errichten lassen. Von der damaligen Pracht existierte allerdings nur noch das Mesmer-Anwesen. Die übrigen Paläste waren entweder ein Raub der Flammen geworden oder die Besitzer waren Bankrott gegangen. Auch gierige Antiquitätenhändler hatten das ihrige zum Ausverkauf dieses Teils der Geschichte beigetragen.
Nachdem sie einige Zeit an einem verwahrlosten Zaun entlanggefahren waren, wies sie plötzlich ein Straßenschild mit der Aufschrift Historisches Gebäude an, in eine breite Einfahrt einzubiegen. Vor ihnen lag ein wunderschönes viktorianisches Gebäude. Sabrina erwartete fast, Damen mit langen Röcken und Sonnenschirmchen Krocket spielen zu sehen, und junge Gentlemen, die sich ehrenhaft duellierten. Tatsächlich arbeiteten jedoch nur ein paar Gärtner an der Bepflanzung.
Sabrina zitterte plötzlich.
Mr. Kraft musterte sie misstrauisch, denn er wusste, dass in ihrer Nähe meist eigenartige Dinge geschahen. Wie genau sie in diese Dinge verwickelt war, darüber wusste er noch nichts Genaues. Er würde es aber früher oder später herausfinden! Für ihn stand jedenfalls fest: Diese Schülerin verheimlichte irgendwas. Ihr Zittern kam ihm wieder in den Sinn: War sie vielleicht krank und wollte nicht, dass es jemand merkte?
Zur selben Zeit verpasste sich Gordie auf der anderen Seite des Ganges einen ordentlichen Spritzer Nasenspray. Plötzlich erstarrte er. Seine Wangen glühten mit einem Mal und er blinzelte hysterisch. Im nächsten Moment entlud sich ein ohrenbetäubendes Niesen.
Mr. Kraft fuhr erschrocken herum, Sabrina war vergessen. „Haben Sie sich etwa mit einer Erkältung hier in diesen Bus gewagt, junger Mann?“
Gordie hatte offensichtlich massive Schwierigkeiten, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Immer neue Niesattacken schüttelten seinen Körper. „Nein, Sir! Das ist eine Allergie!“ Er warf einen Blick auf sein Nasenspray. „Und eigentlich sollte das dagegen helfen.“
„Eine Allergie? Wenn Sie doch wussten, dass Sie krank sind, warum sind Sie dann nicht aus Rücksicht auf Ihre Mitschüler und mich zu Hause geblieben?“
„Heute Mittag steht doch eine Chemiearbeit an!“, schniefte Gordie. „Da darf ich auf keinen Fall fehlen!“
Mr. Krafts Miene verhärtete sich. „Die Schulausbildung darf nicht über das allgemeine Wohl und die Gesundheit gestellt werden! Haben Sie eine Ahnung davon, welch komplexe und gefährliche Prozesse beim Niesen ablaufen? Mikrokleine Spucketeilchen verteilen sich in der Luft, und wir alle atmen sie dann ein. Behalten Sie Ihre Spucketeilchen bei sich, junger Mann!“
Mr. Kraft wirbelte herum und musterte die übrigen Schüler argwöhnisch. Sabrina bedachte er mit einer Extraportion Misstrauen. „Wenn ich noch einen von Ihnen mit ansteckenden Mikroben erwische, dann wird er für den Rest dieser Mission in Quarantäne gesteckt!“
Der Bus hielt. Sie waren vor dem Mesmer-Anwesen angekommen.
Valerie mit ihrem betörenden Duft wurde von allen als Erste aus dem Bus gelassen. Danach war wieder die natürliche Rangordnung mit Libby und Dez in Kraft gesetzt. Als Dez an Sabrina vorbeiging, tätschelte er ihr den Kopf und sagte breit grinsend: „Ich wünsche dir einen gepfefferten Tag!“
Er hatte ihr irgendetwas auf den Kopf gelegt. Vorsichtig griff sie danach. Es war ein leeres, zerknittertes Pfeffertütchen aus der Cafeteria. Sind wir hier im Kindergarten?, fragte sie sich. Wie gerne hätte sie ihm eine Lektion erteilt, doch Mr. Kraft hatte sie ohnehin schon auf dem Kieker. Durch eine unbedachte Aktion hätte sich ihre Situation nur noch verschlimmert.
Sie gingen an gepflegten Grünflächen und knospenden Rosensträuchern entlang zum Eingang des Hauptgebäudes. Mr. Kraft klingelte. Die Tür öffnete sich einen Spalt und man konnte das Gesicht einer kleinen, dunkelhaarigen Frau erkennen. „Guten Morgen“, grüßte er sie. „Ich bin...“
„Dieser Mr. Kraft von der Highschool“, unterbrach sie ihn unfreundlich. „Wollen Sie hereinkommen?“
„Ja, gerne!“
Die Frau öffnete die Tür weit und Mr. Kraft trat mit seinen Schülern ein. Die Eingangshalle war in regenbogenfarbenes Licht getaucht, das durch die neogotischen Glasfenster einfiel, und es herrschte
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