Eine Messe für all die Toten
hieß die Frau, die in Nummer 14 wohnte und
bei der ihr Mann seinen Besuch machte. Es war ganz so, wie Lionel Lawson gesagt
hatte. Rasch ging sie zurück zum Parkplatz von Summertown. Sie hatte gerade
noch Zeit, im Krankenhaus vorbeizuschauen und der Oberschwester zu sagen, daß
es beim Zahnarzt viel länger als vorgesehen gedauert hatte und daß sie die Zeit
morgen nacharbeiten würde.
Als sie nach Hause fuhr, lag auf Brendas Gesicht
ein bösartiges, zufriedenes Lächeln.
Um acht Uhr abends am Mittwoch der folgenden
Woche ließ sich Ruth Rawlinson nicht weiter stören, als sie hörte, wie sich
klickend und knarrend die Tür am Nordportal öffnete. Es kamen oft Besucher her,
um die Kirche zu besichtigen, den Taufstein zu bewundern, eine Kerze
anzuzünden, manche sogar, um zu beten. Lautlos fuhr sie hinter einer der Säulen
im Südflügel mit dem nassen Lappen über den Holzboden. Der Besucher stand jetzt
still, das Echo seiner Schritte war in der leeren, dunklen Kirche verhallt. Um
diese Zeit konnte einem hier fast unheimlich werden, aber Ruth wollte sich
sowieso auf den Heimweg machen. Ihr Alter war schwer zu schätzen, sie konnte
zwischen Mitte Dreißig und Ende Vierzig sein. Jetzt wischte sie mit dem
Handrücken über die blasse Stirn und strich eine ungebärdige Haarsträhne
zurück. Sie hatte genug getan. Zweimal in der Woche, montags und mittwochs,
meist am Vormittag, arbeitete sie etwa zwei Stunden in St. Frideswide’s. Sie
schrubbte die Böden, staubte die Kirchenbänke ab, putzte die Leuchter, räumte
die verwelkten Blumen weg. Und alle drei Monate wusch und bügelte sie sämtliche
Chorhemden. Die Motive für diese guten Werke lagen — nicht zuletzt für Ruth
selbst — in dunkeln. Manchmal hatte sie den Verdacht, daß sie damit nur einem
fast pathologischen Bedürfnis nachkam, kurze Zeit ihrer anspruchsvollen,
unzufriedenen, selbstbezogenen kranken Mutter zu entkommen, mit der sie
zusammenlebte. Dann wieder, besonders sonntags, hatte sie das Gefühl, daß es da
noch tiefere Beweggründe gab, denn die gesungene Messe, besonders Palestrina,
berührte sie sehr, und wenn sie dann an den Tisch des Herrn trat, um die Hostie
zu empfangen, empfand sie fast mystische Verzückung und Frömmigkeit.
Jetzt setzte der Besucher sich wieder in
Bewegung, die Schritte kamen auf dem Mittelgang näher. Ruth schaute über den
oberen Rand der Kirchenbank. Sie meinte den Mann schon einmal gesehen zu haben,
aber er war halb von ihr abgewandt, und zunächst erkannte sie ihn nicht. Sein
dunkler Anzug schien aus gutem Stoff zu sein, aber er war abgetragen und zu
groß für ihn, und das, was sie von seinem Gesicht erkennen konnte, war mit
grauen Stoppeln bedeckt. Er sah über die Kirchenbänke hinweg, erst nach links,
dann nach rechts, dann blieb er vor den Stufen zum Chor stehen. Suchte er
etwas? Oder jemanden? Ruth hatte das Gefühl, daß es besser war, wenn sie sich
nicht bemerkbar machte. Leise verteilte sie mit dem Tuch den irisierenden
Seifenschaum.
Wieder das Klicken und Knarren der Tür am
Nordportal. Rasch tauchte sie den seifigen Lappen in das Schmutzwasser, aber
dann erstarrte sie mitten in der Bewegung.
«Sie sind also gekommen?»
«Nicht so laut.»
«Ist doch niemand da.»
Der Neuankömmling ging den Mittelgang entlang,
die beiden Männer trafen sich auf halbem Wege. Sie sprachen leise, aber die
wenigen Gesprächsfetzen, die Ruth auffing, waren nur zu verständlich.
«...Ihnen schon mehr als genug gegeben, Sie
kriegen keinen Penny mehr.»
«...hab Ihnen doch schon gesagt, Mr. Morris, es
ist doch bloß, damit ich über die Runden komme. Wäre Ihnen bestimmt nicht
recht, wenn ich meinem Bruder sage...» Die Stimme war eine seltsame Mischung
aus Kultiviertem und Ordinärem.
Das häßliche Wort «Erpressung» kam Ruth in den
Sinn, doch da hatte sich die Tür schon wieder geöffnet, und eine
Touristengruppe war hereingekommen. Eine näselnde amerikanische Stimme lobte
das Taufbecken in den höchsten Tönen.
Die Sommerferien waren zur Hälfte vorbei, die
Augustsonne strahlte. Brenda und Harry Josephs waren auf eine Woche in Tenby,
Lawson war gerade von einem kurzen Urlaub in Schottland zurückgekommen, Peter
Morris war in einem Pfadfinderlager, und sein Vater war damit beschäftigt, das
Treppenhaus zu tapezieren. Unter anderem.
Um halb zwei saß er im Old Bull in
Deddington und war zu dem Schluß gekommen, daß er nichts mehr trinken dürfe.
Schließlich mußte er noch nach Hause fahren. Und er
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