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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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fand Morris — rasiermesserscharf war. Er nahm sich zunächst die
linken Schubfächer vor. Alle ließen sich widerstandslos öffnen, alle enthielten
anscheinend Harmloses. Dasselbe galt für zwei der rechten Schubfächer. Aber das
unterste war abgeschlossen. Von einem Schlüssel keine Spur.
    Als angehender Einbrecher hatte Morris die
Widerspenstigkeit von Schlössern und Riegeln nur insoweit berücksichtigt, als
er einen kleinen Meißel mitgenommen hatte, den er jetzt aus der Tasche zog. Er
brauchte gute zehn Minuten, und als das unterste Schubfach endlich offen stand,
war der Rahmen, der es umgab, hoffnungslos verschrammt und angeschlagen. Das
Fach enthielt eine alte Konfektionsschachtel, von der Morris gerade die Gummibänder
streifte, als er einen leisen Laut hörte und mit schreckgeweiteten Augen
herumfuhr.
    In der Tür stand ein Mann mit schaumbedecktem
Gesicht, in der rechten Hand einen Rasierpinsel, in der linken ein schmutziges
rosa Handtuch. Sekundenlang war Morris so verblüfft, daß er fast seinen
Schrecken darüber vergaß, denn er hatte zunächst den Eindruck, daß Lawson vor
ihm stand. Aber das war natürlich Unsinn, und nach ein paar Sekunden setzte
sein logisches Denken wieder ein. Der Mann war etwa ebenso groß und von ähnlichem
Körperbau wie Lawson, aber das Gesicht war schmaler, das Haar grauer. Und die
Stimme des Mannes klang ganz anders als die von Lawson, war eine seltsame
Mischung aus Kultiviertem und Ordinärem.
    «Sag mal, alter Freund, was zum Teufel treibst
du eigentlich hier?»
    Jetzt erkannte Morris ihn. Er war einer der
Pennbrüder, die manchmal auf dem Bonn Square oder in der Brasenose Lane
zusammensaßen. Lawson hatte ihn ein paarmal zum Gottesdienst mitgebracht. Es
wurde gemunkelt, die beiden seien verwandt. Manche hatten gar den Verdacht, daß
der Mann Lawsons Bruder war.
     
     
    In Bournemouth strahlte die Sonne von einem
wolkenlosen Himmel, aber der Wind war kalt und böig, und Brenda Josephs in
ihrem Liegestuhl beneidete die Urlauber, die behaglich hinter ihrem gestreiften
Windschutz aus Segeltuch saßen. Ihr war kalt, und sie langweilte sich. Und
Harrys Bemerkung ging ihr nach: «Schade, daß Morris keine Zeit hatte.»
    Das war alles gewesen. Alles?
    Die Jungen waren mit geradezu bewundernswerter
Energie herumgetobt, sie hatten am Strand Fußball gespielt, waren ins Wasser
gestürmt, auf den Felsen herumgeklettert, hatten Cola in sich hineingeschüttet,
Sandwiches verschlungen, Kartoffelchips gemampft, waren wieder ins Wasser
gegangen. Aber für sie, Brenda, war es ein leerer, nutzloser Tag gewesen. Sie
war als «Schwester vom Dienst» mitgefahren, denn es blieb nicht aus, daß auf so
einem Ausflug einem Kind schlecht wurde oder sich jemand das Knie aufschlug.
Statt dessen hätte sie den Tag mit Paul verbringen können. Ohne jedes Risiko.
Die Vorstellung war schier unerträglich.
    Weit draußen funkelte das Meer einladend in der
Sonne, aber am Strand schlugen die Brecher mit schwerer Gischt auf. Es war kein
Tag für gemächliche Strandläufe, aber ein Riesenspaß für die Jungen, die noch
immer gegen die Wellen angingen. Lawson war bei ihnen, hellhäutig wie ein
Fischbauch, lachend, planschend, rundum glücklich. Brenda kam das alles recht
harmlos vor, sie konnte sich einfach nicht vorstellen, daß in diesem
kleinlichen Kirchenklatsch ein Kern von Wahrheit stecken sollte. Lawson war ihr
zwar nicht sonderlich sympathisch, aber sie hatte auch nichts gegen ihn.
Wahrscheinlich ahnte er, daß sich zwischen ihr und Paul etwas abspielte. Aber
er hatte nichts gesagt. Noch nicht...
    Harry hatte einen Spaziergang über die
Strandpromenade gemacht, und sie war froh, daß sie allein war. Sie versuchte
Zeitung zu lesen, aber die Seiten flatterten und blähten sich im Wind, bis sie
es aufgab und das Blatt wieder in die Tasche steckte, zu der Thermosflasche mit
Kaffee, den Lachsbroten und ihrem weißen Bikini. Schade, daß es nichts geworden
war mit dem Bikini. In den letzten Monaten war sie zunehmend körperbewußt
geworden, und es hätte ihr Spaß gemacht zu sehen, wie die jungen Burschen ihre
vollen Brüste anglotzten. Was ist nur los mit mir, dachte sie.
    Als Harry nach einer Stunde zurückkam, merkte
man, daß er getrunken hatte, aber Brenda sagte nichts. Als Zugeständnis an den
englischen Sommer hatte er alte Shorts angezogen, lange schlottrige
Army-Shorts, in denen er und seine Leute, wie er sagte, den malaysischen
Dschungel terroristenfrei gemacht hatten. Seine Beine waren dünner

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