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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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geworden,
besonders an den Schenkeln, aber sie waren noch immer muskulös und kräftig,
kräftiger als die von Paul. Aber... Sie stemmte sich gegen die Flut der
Gedanken und wickelte die Brote aus der Alufolie.
    Sie wandte den Blick von ihrem Mann ab, der
langsam Dosenlachs kaute. Was ist nur los mit mir, dachte sie wieder. Der arme
Kerl konnte jetzt nicht einmal essen, ohne daß sich leichter Ekel in ihr regte.
Etwas mußte geschehen, und zwar bald. Aber was?
    Nicht an diesem freudlosen Tag in Bournemouth,
aber wenig später akzeptierte Brenda Josephs die böse Wahrheit, die sich schon
seit einiger Zeit mühte, in ihr Bewußtsein vorzudringen: Sie haßte den Mann,
den sie geheiratet hatte.
     
     
    «Haben Sie schon gehört? Bei uns soll sich ja
jemand aus der Kollekte bedienen... Es ist nur ein Gerücht, aber...» Morris kam
das Gemunkel am nächsten Morgen zum erstenmal zu Ohren, aber ihm — wie vielen
anderen — schien es, als stünden die vorgeblichen allwöchentlichen Diebstähle für
die himmlischen Instanzen bereits fest und als sei die Bestätigung von
irdischer Seite nur mehr eine Formsache. Es lag auf der Hand, daß es nur zwei
Möglichkeiten gab und daß nur zwei Verdächtige in Frage kamen: Lawson am Altar,
Josephs in der Sakristei. Während er den vorletzten Vers des Chorals spielte,
unter dessen Klängen das Opfergeld eingesammelt wurde, rückte Morris den
Orgelspiegel leicht nach rechts und änderte die Höheneinstellung, so daß er das
große vergoldete Kruzifix, das auf der Altardecke aus schwerem Brokat lag, gut
im Blick hatte. Und auch Lawson, der den Kollekteteller segnend hob und wieder
senkte, ehe er ihn dem Kirchenältesten zurückgab. Lawsons Hände hatte er nicht
deutlich sehen können, aber Morris hätte schwören mögen, daß nichts von dem
Teller verschwunden war. Also mußte es dieser widerliche Wurm Josephs sein, der
Zugriff, wenn er das viele Geld in der Sakristei zählte, was ja auch viel
naheliegender war. Andererseits... Gab es nicht einen noch viel
wahrscheinlicheren Übeltäter? Den abgerissenen Typ aus dem Obdachlosenasyl, der
heute früh wieder dagewesen war und neben Josephs gesessen hatte, um den sich
Lawson manchmal kümmerte — und dem er selber gestern vormittag im Pfarrhaus
begegnet war?
    Wenige Minuten später schloß er die Orgeltür
leise hinter sich und grüßte munter, als sich Mrs. Walsh-Atkins endlich von den
Knien erhob. Aber diese Munterkeit war nur Fassade. Während er langsam durch
den Mittelgang schritt, dachte er ausnahmsweise nicht nur an Brenda Josephs,
die am Taufstein auf ihn wartete. Er hatte Sorgen, große Sorgen. Wie Lawson um
diese Zeit vor einer Woche.
     
     
     

5
     
    Es war der Mittwoch danach. Niemand achtete auf
die Frau, die am Fenster stand und gemächlich ein Musterbuch nach dem anderen
durchblätterte. «Ich will mich nur mal orientieren», hatte sie zu der
Verkäuferin gesagt. Über gewisse Dinge allerdings war sie schon orientiert.
Über Harrys Bewegungen beispielsweise. Von der Bushaltestelle in der Woodstock
Road würde er die South Parade hinuntergehen (wo Cromwell einst seine Roundheads
aufgestellt hatte), nach rechts in die Banbury einbiegen und dann das Wettbüro
gegenüber dem Teppichgeschäft betreten. Ja, da war er. Sie wußte auch, daß er
früher oder später — eher früher — wieder herauskommen würde, da er gegen eins
zu Hause zum Essen erwartet wurde. Von ihr. Und vorher noch einen Besuch machen
mußte.
    Zwanzig Minuten nach elf erschien Harry Josephs.
Seine Frau ging rasch hinter einer Reihe waagerecht gestapelter Linoleumrollen
in Deckung und beobachtete ihn. Er ging zurück zur South Parade und drückte am
Fußgängerübergang den Knopf der Ampel, um die Banbury Road zu überqueren. Mit
einem schuldbewußten «Schönen Dank auch» verließ sie das Geschäft und folgte
ihm in gebührendem Abstand, während er leicht und plattfüßig in Richtung
Nord-Oxford ging. Durch seinen braunen Anzug war er in der Menge deutlich zu
erkennen. Jetzt würde er gleich rechts abbiegen, in die Manning Terrace. Sie
schlängelte sich geschickt an den Kinderwagen vorbei, um ihn nicht zu
verlieren. Er ging auf der rechten Straßenseite. Vor dem siebenten oder achten
Haus würde er haltmachen. Sie kannte nicht nur die Hausnummer, sondern auch die
Frau, die dort wohnte, kannte ihre Haarfarbe und ihre Frisur. Langes, vorzeitig
ergrautes Haar, grau wie die Strähne, die sie in der vorigen Woche an Harrys
Anzug gefunden hatte. Ruth Rawlinson

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