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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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zweite. Radio Oxford hatte vorhin ein Interview mit dem neuen Pfarrer
von St. Frideswide’s gebracht, der gerade von einem vierzehntägigen Aufenthalt
in einem Kloster auf der Insel Patmos zurückgekommen war.
    Morse trat beiseite, um Jasons voluminöse Mutter
einsteigen zu lassen. Sie verlangte eine Fahrkarte nach St. Frideswide’s, und
während sie einhändig in ihrer Handtasche herumkramte, sahen die anderen
Fahrgäste stumm und hilflos mit an, wie der Held der Argonauten seine
schmutzigen Schuhe an den Polstern der nächstbesten Sitzbank abwischte.
    Natürlich kannte Morse St. Frideswide’s, eine
der Kirchen am Cornmarket. Im Herbst war da etwas Merkwürdiges passiert. Er
selbst war damals acht Wochen nach Westafrika abgestellt gewesen.
    «Wohin, Chef?»
    «Äh —» Morse war über ein Jahr nicht mehr Bus
gefahren. «St. Frideswide’s, bitte.» Die Haltestelle lag ganz günstig zum
Ashmolean, und Morse hatte eine Stunde Kunst eingeplant. Er freute sich auf das
Wiedersehen mit dem Tiepolo. Und dem Giorgione.
    Aber weder der eine noch der andere war ihm an
diesem Vormittag vergönnt.
    Während Mrs. Jason mühsam die Kinderkarre aus der
Gepäckablage zerrte, war der siegreiche junge Vandale bereits auf der Straße,
und im Handumdrehen war die untere Hälfte eines Plakats abgerissen, das an dem
Gitter vor der Kirche angebracht war.
    «Wie oft soll ich dir noch sagen, daß...» Eine
schallende Ohrfeige begleitete die rhetorische Frage, dann wurde der
hoffnungsvolle Knabe brüllend abgeschleppt.
    Auf dem Schild stand jetzt: Osterbazar in St.
Frideswide’s. Mehr nicht. Datum, Zeit und Ort waren zusammen mit Jason
verschwunden.
    Morse glaubte weder an einen Gott noch an ein
lenkendes Schicksal. Seine Weitsicht war — wie die von Hardy — kaum mehr als
eine Kollektion verworrener Eindrücke, vergleichbar den Empfindungen eines
staunenden kleinen Jungen bei der Vorstellung eines Zauberkünstlers. Doch im
Rückblick kam es ihm doch wie Vorbestimmung vor, daß er an diesem Vormittag,
einem seltsamen Zwang gehorchend, diese eine, ganz bestimmte Richtung
einschlug. Er ging die wenigen Schritte über den Gehsteig und öffnete die Tür
am Nordportal von St. Frideswide’s.

7
     
    Als Schuljunge hatte Morse ein paar Shilling in
ein Buch über Architektur investiert und zahlreiche Kirchen abgeklappert, in
denen er gewissenhaft die Entwicklung von der Früh- zur Spätgotik verfolgt
hatte. Doch die Begeisterung war — wie in vielen anderen Fällen — nur kurzlebig
gewesen. Als er jetzt in der hallenden Stille stand und den Mittelgang entlang
zum Altar blickte, die Sakristei mit dem schweren Vorhang im Rücken, kam ihm
von der Architektur nur noch wenig bekannt vor. Die Informationen waren zwar
irgendwo in seinem Gehirn gespeichert, das aber weigerte sich, sie
herauszugeben. Er kam sich vor wie ein an Gedächtnisschwund leidender
Ornithologe vor einem Ententeich. Ein Kreis von Kerzen brannte vor dem Bild
eines Heiligen, ein goldenes Kruzifix warf ihren Schein in länglichen
Lichtblitzen zurück. Schwer hing der Duft von Weihrauch im Raum.
    Ganz still war es übrigens nicht, stellte Morse
fest, als er langsam zum Chor ging. Irgendwo hörte er ein leises, rhythmisches
Kratzen. Eine Kirchenmaus, die im Gebälk herumrannte? Nein, dafür war das
Geräusch zu regelmäßig. Jetzt sah Morse, daß er nicht allein war. Ein grauer
Kopf kam über der Lehne der vordersten Kirchenbank zum Vorschein. Die Frau
nickte dem Besucher reserviert zu, wischte sich mit dem Handgelenk die blasse
Stirn und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. Dann bückte sie sich
wieder, die konzentrischen Seifenringe auf dem Dielenboden lösten sich unter
ihrem Wischlappen auf. Mit klapperndem Eimer rückte sie ein Stück weiter.
    Morse lächelte liebenswürdig «Guten Morgen.
Gibt’s hier keine von diesen Broschüren, in denen dem Besucher gesagt wird, was
er sich anzusehen hat?»
    «Nein, sie sind uns letzte Woche ausgegangen,
aber der Pfarrer läßt neue drucken.»
    «Der Pfarrer? Das ist Mr. Lawson, nicht?»
    «Nein.» In den großen, braunen Augen, die zu ihm
aufsahen, stand plötzlich Zurückhaltung. Sie schien bedeutend jünger zu sein,
als er zuerst gedacht hatte. «Unser Pfarrer heißt Meiklejohn, er ist seit
November hier.»
    «Dann habe ich das wohl mit einer anderen Kirche
verwechselt.»
    «Nein. Der vorige Pfarrer hieß Lawson.» Sie
zögerte. «Er ist im Oktober gestorben.»
    «Das tut mir leid.»
    Ein paar Sekunden schwiegen beide.
    «Sie

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