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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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galt der Turm nicht als gefährdet, und erst eine Woche davor waren
Handwerker oben gewesen, um das Bleidach zu überprüfen.
    Pfarrer
Lawson, 41 Jahre alt und Junggeselle, war seit fast elf Jahren Pfarrer in St.
Frideswide’s. Besonders im Gedächtnis bleiben wird sein soziales Engagement,
denn zusätzlich zu seinem unermüdlichen Einsatz in der florierenden
Jugendarbeit nahm er sich stets mit verständnisvollem Mitgefühl der Obdachlosen
an. Es dürfte in Oxford kaum einen Stadtstreicher geben, den er nicht
irgendwann einmal unter seine Fittiche genommen hätte.
    Als
Geistlicher machte er kein Hehl aus seinen Neigungen zur Hochkirche. Zwar hatte
er sich durch unmißverständlich zum Ausdruck gebrachte Ablehnung der
Ordinierung von Frauen nicht gerade überall beliebt gemacht, doch trauert eine
große ihm treu ergebene Gemeinde um ihren Freund und Seelsorger. Lawson
studierte Theologie in Christ’s College, Cambridge, und später in St. Stephen’s
House, Oxford.
    Erst
letzten Monat war H. A. Josephs, einer der Kirchenältesten von St.
Frideswide’s, in der Sakristei der Kirche erstochen aufgefunden worden.
     
    Morse las den letzten Satz noch einmal und
fragte sich, warum der Reporter es nötig befunden hatte, ihn anzufügen. Daß auf
einen Mord kurze Zeit später ein Selbstmord folgte, war nicht ungewöhnlich, und
der Reporter dürfte nicht der einzige gewesen sein, der da einen
Kausalzusammenhang gewittert hatte. Wenn Lawson bei Josephs Tod irgendwie die
Hand im Spiel gehabt hatte, war es für ihn als einen Diener Gottes nur recht
und billig, daß ihn das Gewissen plagte und er sich vom nächstbesten Turm stürzte.
    Morse leerte sein Glas, kramte nach weiterem
Kleingeld und sah sich um. Eine Frau, deren Hinteransicht er sich mit
wachsendem Interesse besah, war an den Tresen getreten. Im Alter paßte sie sehr
viel besser zu ihm als die Barfrau, soviel stand fest. Schwarze kniehohe
Lederstiefel. Schlanke Figur. Hellbeiger Regenmantel, eng gegürtet.
Rotgetupftes Kopftuch. Nett. Und ohne Begleitung.
    Morse trat zu ihr und hörte, wie sie einen Dry
Martini bestellte. Er brauchte nur den Drink zu zahlen, sie in eine stille Ecke
zu bitten und leise, fesselnd und souverän über dies und jenes zu plaudern, und
dann... wer weiß? Doch da war schon ein Mann mittleren Alters aufgestanden und
legte ihr eine Hand auf die Schulter.
    «Ich mach das schon, Ruthie. Setz dich
inzwischen.»
    Miss Rawlinson band das Kopftuch ab und
lächelte. Erst dann schien sie Morse zu bemerken, und das Lächeln erlosch. Sie
nickte ihm fast frostig zu und wandte sich ab.
    Nach dem dritten Bier verließ Morse die Bar. Von
der Hotelhalle aus rief er im Polizeipräsidium an. Aber Chief Inspector Bell
war auf Urlaub. In Spanien.
     
     
    Es war lange her, seit Morse sich körperlich
ertüchtigt hatte, und einem Impuls folgend beschloß er, zu Fuß nach Nord-Oxford
zurückzugehen. Nur eine halbe Stunde, wenn er Tempo vorlegte. Wie zum Hohn
überholte ihn ein Bus nach dem anderen: der Bus nach Cutteslowe, der Bus nach
Kidlington, und der immer leere Park-and-Ride-Bus, unter großem finanziellen
Aufwand von den Stadtvätern eingesetzt in der eitlen Hoffnung, sie könnten die
Bürger dazu bewegen, zum Einkäufen das Auto am Stadtrand stehenzulassen. Morse
stiefelte verbissen weiter.
    An der Kreuzung der Marston Ferry Road
beobachtete er wie hypnotisiert einen Wagen, der in nördliche Richtung fuhr,
plötzlich ausscherte und mit einem überholenden Motorrad zusammenstieß. Der
Fahrer wurde auf die andere Straßenseite geschleudert, wo sein weißer Helm mit
einem schaurigen Knall an den Randstein schlug und das Rad eines
entgegenkommenden Lasters trotz kreischender Bremsen mit hörbarem Knirschen das
Becken des Verunglückten überrollte.
    Andere Zeugen des Geschehens bewiesen — vielleicht
zum erstenmal in ihrem Leben — einen aus der Situation erwachsenden Mut der
Verzweiflung. Etliche knieten neben dem Sterbenden nieder, Mäntel wurden über
seinen zerschmetterten Körper gebreitet. Ein junger Mann mit fettigem,
schulterlangen Haar lenkte den Verkehr um. Ein Arzt von der Gemeinschaftspraxis
an der Ecke war schon unterwegs, Krankenwagen und Polizei waren verständigt.
    Morse spürte, wie sich sein Magen schmerzhaft
zusammenzog. Leichter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und als er den Blick
abwandte und sich davonmachte, meinte er, sich übergeben zu müssen. Seine
Passivität und Feigheit widerten ihn an, aber die Übelkeit, die in ihm

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