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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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dreißigsten
Lebensjahr täglich 30 000 Gehirnzellen verlieren.»
    «Nur gut, daß wir so viele haben, Inspector.» In
den ruhigen Augen stand vielleicht eine Spur von Spott, aber Morses kleiner
Scherz hatte keine entsprechende Reaktion hervorgelockt.
    «Ich will nur noch kurz mit Mr. Morris sprechen,
ehe —»
    «Das ist nicht Mr. Morris.»
    «Wie bitte?»
    «Das ist Mr. Sharpe, er war früher zweiter
Organist hier.»
    «Und Mr. Morris ist nicht mehr bei Ihnen?»
fragte Morse nachdenklich.
    Sie schüttelte den Kopf.
    «Wissen Sie, wo er ist?»
    Wieder wirkte sie merkwürdig zurückhaltend.
«Nein. Er ist weggezogen. Im Oktober.»
    «Aber er hat doch sicher —»
    Sie griff nach ihrem Eimer und wandte sich zum
Gehen. «Keiner weiß, wo er abgeblieben ist.»
    Morse spürte, daß sie log. «Es ist Ihre Pflicht,
mir zu sagen, was Sie wissen.» Er sprach jetzt mit ruhiger Autorität, und die
Frau errötete leicht.
    «Es ist weiter nichts, nur... Er ist zur
gleichen Zeit weggezogen wie jemand anders.»
    «Und dabei konnte man sich sein Teil denken,
meinen Sie?»
    Sie nickte. «Ja. Sehen Sie, er hat Oxford in der
gleichen Woche verlassen wie Mrs. Josephs.»
     
     
     

8
     
    Morse trat ins Freie und schlenderte zu dem
kleinen Lokal gegenüber.
    «Einen Kaffee bitte», sagte er zu dem Mädchen,
das sich an der Kasse lümmelte.
    «Wenn Sie sich setzen, kommt die Bedienung zu
Ihnen.»
    «Ach so.» Das Verfahren kam ihm etwas
umständlich vor.
    Er setzte sich, starrte geistesabwesend durch
die großen Scheiben, an denen jetzt Regentropfen hingen, und besah sich die
Leute, die am Cornmarket entlanggingen. Direkt gegenüber, an dem schwarzen
spitzenbewehrten Gitter von St. Frideswide’s lehnte ein bärtiger, durchnäßter
Penner, eine Flasche in der linken Hand.
    «Was darfs sein, bitte?» Es war das Mädchen von
der Kasse.
    «Hab ich Ihnen doch eben gesagt», fuhr Morse
gereizt auf.
    «Tut mir leid, Sir, aber—»
    «Mir reicht’s.» Er stand auf und ging wieder
über die Straße.
    «Wie geht’s, Bruder?»
    Der Penner beäugte Morse mißtrauisch durch eine
dunkle Sonnenbrille, die nicht recht in die Landschaft paßte. Daß sich jemand
ungebeten für sein Wohlergehen interessierte, kam offenbar nicht alle Tage vor.
«Tasse Tee wär nicht schlecht, Chef.»
    Morse drückte zwei Zehn-Pence-Stücke in eine
überraschend saubere Hand. «Stehen Sie sonst auch immer hier?»
    «Nee, meist vor dem Brasenose College. Ist mal
’ne Abwechslung.»
    «Manchmal kommen nette Leute aus der Kirche,
wie?»
    «Manchmal.»
    «Kennen Sie den Pfarrer?»
    «Nee. Der jagt mich bestimmt weg. Den anderen
hab ich gekannt, der war ein richtiger Gentleman. Hat einen manchmal mit ins
Pfarrhaus genommen und einem was Anständiges zu spachteln gegeben.»
    «Ist das der, der gestorben ist?»
    Der Penner sah Morse an. Was hinter der dunklen
Brille vorging, war nicht zu erkennen. Er nahm einen Schluck aus der Pulle.
«Sie sagen es, Mister.» Er schlurfte am Gitter entlang und verschwand in Richtung
Carfax.
    Morse ging wieder auf die andere Straßenseite,
vorbei an dem kleinen Lokal, an einem gut bestückten Fahrradgeschäft und dem
Kino, dann bog er links in die sanft geschwungene Beaumont Street ein. Einen
Augenblick schwankte er zwischen dem Ashmolean, das rechts gegenüber lag, und
dem gleich links gelegenen Randolph. Es war kein fairer Wettstreit.
    Die Bar war schon ziemlich voll. Morse wartete,
bis eine Gruppe von Amerikanern ihre in breitem Akzent geforderten Gin and
Tonics bekommen hatten. Die Barfrau trug ein tief ausgeschnittenes Kleid, und
Morse beobachtete mit fasziniertem Desinteresse, wie er es nannte, wie sie sich
endlich vorbeugte, um sein Bier zu zapfen. Aber sie war zu jung, kaum über
zwanzig, und Morse hatte sich inzwischen eine Theorie zurechtgebastelt, nach
der Männer sich immer zu etwa gleichaltrigen Frauen hingezogen fühlen —plus
oder minus zehn Jahre.
    Er setzte sich, ließ sich sein Bier schmecken
und holte Ausschnitt Nummer Drei aus der Tasche. Er war vom Mittwoch, dem 19.
Oktober.
     
    TRAGISCHER KIRCHTURMSTURZ
    Gestern
vormittag fand Pfarrer Lionel Lawson den Tod, als er vom Turm der St.
Frideswide’s-Kirche am Cornmarket stürzte. Erst zehn Minuten vorher hatte er
die Messe gehalten, und zwei Gottesdienstbesucher entdeckten als erste das
Unglück.
    Der
Kirchturm, früher ein bei Touristen beliebter Aussichtspunkt, ist seit zwei Jahren
für Besucher gesperrt, da sich in den Steinen an der Nordseite Risse gezeigt
hatten. Doch

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