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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Oxford City Police teilte dem Coroner mit, er könne noch
nichts Bestimmtes zu dem Fortgang des Falles sagen, doch die Ermittlungen seien
angelaufen. Der Coroner sprach der Witwe des Ermordeten, Brenda Josephs, seine
tiefempfundene Anteilnahme aus. Der Trauergottesdienst findet am Donnerstag um
14.30 Uhr in St. Frideswide’s statt.
     
    Der Artikel war nicht sensationell, aber
durchaus interessant. Wie war das Morphium in den Magen des armen Teufels
gekommen? Irgendjemandem mußte sehr viel daran gelegen haben, ihn aus dem Weg
zu räumen, und dieser Jemand lief noch immer — vermutlich sogar in Oxford — als
freier Mann herum. Oder als freie Frau, ergänzte Morse in Gedanken und warf
einen raschen Blick auf sein Gegenüber.
    Er saß nur ein paar Meter vom Tatort entfernt
und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Die Orgel spielt, die wenigen Besucher
sind aufgestanden und sehen auf ihre Gesangbücher herunter... Moment mal. Wo
war die Orgel? Er stand auf und ging die breiten, flachen Stufen zum Chor
hinauf. Ja, da war sie, links hinter dem Chorgestühl, von einem blauen Vorhang
umgeben. Über dem obersten Manual war ein Spiegel angebracht, so daß der
Organist selbst zwar nicht zu sehen war, aber Pfarrer und Chor im Auge behalten
konnte und auch, wenn er wollte, die Gemeinde. Wenn man den Spiegel ein bißchen
drehte... Morse setzte sich hinter dem Vorhang auf die Orgelbank und blickte in
den Spiegel. Er sah hinter sich das Chorgestühl und den Chor. Dann fing er an,
den Spiegel zu verstellen wie ein nervöser Kandidat vor der
Führerscheinprüfung. Das ging leicht und lautlos. Herauf, herunter, nach rechts
und nach links, ganz beliebig. So, zunächst nach rechts und ein Stück nach
unten. Jetzt sah er direkt auf das kunstvolle Goldgewirk, das die grüne
Altardecke umrandete. Dann nach links und nach unten. Jetzt sah er Kopf und
Schultern der Putzfrau, deren Ellbogen emsig über dem Seifenschaum kreisten.
Noch weiter nach links und ein bißchen nach oben, fast bis zum Anschlag. Morse
hielt jäh inne. Ein nadelfeiner Schmerz durchzuckte seine Schläfen. Er sah
jetzt deutlich den Vorhang zur Sakristei, der sich damals vielleicht nur einen
Spalt breit geöffnet und den Blick auf einen Mann freigegeben hatte, der
verzweifelt gegen das Brausen der Orgel anschrie, einen Mann mit einem Messer
im Rücken, der nur noch ein, zwei Sekunden zu leben hatte. Wenn nun der
Organist — Morris, so hieß er wohl — während dieser schicksalhaften Sekunden
auf den Vorhang zur Sakristei geblickt, wenn er etwas Bestimmtes gesehen hatte?
Zum Beispiel...
    Das Eimergeklapper holte seine hochfliegenden
Gedanken wieder zur Erde zurück. Wozu hätte der Mann den Spiegel in eine so
unwahrscheinliche Stellung bringen sollen, während er den letzten Choral
spielte? Schwamm drüber. Er wandte sich um und warf einen Blick über den
Vorhang. Die Putzfrau schien zusammenzupacken, und er hatte die anderen
Ausschnitte noch nicht gelesen. Aber da bekamen seine Gedanken schon wieder
Flügel und erhoben sich mühelos wie eine Möwe, die über den Klippen schwebt.
Der Orgelvorhang... Er selbst war nur etwas über mittelgroß, aber auch wenn er
zehn bis zwölf Zentimeter größer gewesen wäre, hätte ihn der Vorhang gut
verborgen. Außer seinem Hinterkopf würde man wenig sehen. Vielleicht war Morris
ja auch ausgesprochen klein, dann wäre er fast gar nicht zu sehen gewesen. Chor
und Gemeinde hätten in diesem Fall überhaupt nicht gewußt, ob es tatsächlich
Morris war, der an der Orgel saß.
    Er ging die Stufen wieder hinunter. «Könnte ich
die Ausschnitte noch behalten. Ich würde Sie Ihnen wieder zuschicken.»
    Die Frau zuckte die Schultern. «Meinetwegen.»
    «Ich weiß leider nicht, wie Sie heißen—» setzte
Morse an, aber inzwischen hatte ein ziemlich klein gewachsener Mann mittleren
Alters die Kirche betreten und kam rasch auf sie zu.
    «Morgen, Miss Rawlinson.»
    Miss Rawlinson, Zeugin bei der Leichenschau.
Sieh mal einer an. Und der Mann, der eben hereingekommen war, mußte Morris
sein, der andere Zeuge, denn er hatte sich schon an die Orgel gesetzt, ein paar
Schalter klickten, eine verborgene Energiequelle begann zu sirren, gefolgt von
einer Reihe rauher Baßtöne.
    «Ja, wie gesagt, ich kann sie Ihnen schicken
oder auch in den Briefkasten stecken. Manning Road 14, nicht?»
    «Manning Terrace.»
    «Richtig.» Morse lächelte entschuldigend. «Das
Gedächtnis läßt allmählich nach. Es heißt, daß wir nach unserem

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