Eine Messe für all die Toten
wühlte,
trieb ihn weiter, immer weiter, vorbei an den Geschäften von Summertown, bis zu
seinem Haus. Selbst der Levite hatte einen raschen Blick gewagt, ehe er
vorüberging.
Morse hatte nie so ganz begriffen, was ihn an
einem Verkehrsunfall immer so hoffnungslos aus der Fassung brachte. Oft genug
hatte er am Tatort eines Mordes gestanden, hatte eine brutal verstümmelte
Leiche untersucht, voller Widerwillen, gewiß, aber ohne diese tiefe
Verunsicherung. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, daß ein Unterschied
zwischen dem Tod und dem Vorgang des Sterbens bestand, eines qualvollen
Sterbens nach einem Verkehrsunfall. Ja, es war wohl das Zufällige, die
Beliebigkeit eines solchen Todes, der Gedanke, daß ein paar Meter, ja,
Zentimeter, daß Sekundenbruchteile Sicherheit bedeutet hätten. Es war, wie
Lukrez es ausgedrückt hatte, das zufällige Zusammentreffen der Atome, das
Sinnlos-Grausame einer solchen Begebenheit. Wenn Morse sich die in immer
weitere Ferne rückende Möglichkeit vorstellte, selbst einmal Frau und Kinder zu
haben, dachte er oft daran, daß er im Familienkreis vielleicht eine unheilbare
Krankheit, nie aber einen Verkehrstod würde verkraften können.
In der Ferne war jetzt die Sirene des
Krankenwagens zu hören, sie klang wie das Jammern einer verzweifelten Mutter
nach ihren Kindern.
Morse nahm die Milchflasche von der Schwelle und
betrat seine Wohnung. Kein sehr vielversprechender Urlaubsanfang. Er griff nach Vier letzte Lieder von Richard Strauß. Aber dann kam ihm ein Gedanke,
und er legte die Platte wieder aus der Hand. Im Randolph hatte er
flüchtig den vierten Ausschnitt gelesen, der über die Leichenschau im Fall
Lawson berichtete, und den er nicht sehr aufschlußreich gefunden hatte. Er nahm
ihn sich noch einmal vor. Der arme Kerl hatte offenbar schlimm ausgesehen, der
Körper völlig zerschmettert, der Schädel... Ja, das war es, was Morse durch den
Kopf geschossen war, als er gerade den Deckel des Plattenspielers aufklappen
wollte. Wenn er selbst es schon nicht fertigbrachte, in das Gesicht eines
sterbenden Motorradfahrers zu sehen, wie war es da um die beiden Zeugen
bestellt, die Lawson gefunden hatten? Jetzt brauchte er nur noch die eine oder
andere Detailangabe aus dem Protokoll. Und da er den Coroner gut kannte, konnte
er sich die holen, wann er wollte. Noch heute nachmittag.
Zehn Minuten später war er eingeschlafen.
9
Ruth Rawlinson wich dem Blick des Mannes aus,
leerte ihren zweiten Martini und starrte auf die Zitronenscheibe am Grund ihres
Glases.
«Noch einen?»
«Nein, besser nicht, ich hatte schon zwei.»
«Na und? Wir leben nur einmal.»
Ruth lächelte traurig. Das sagte ihre Mutter
auch immer. Du machst nichts aus deinem Leben, Ruthie. Versuch doch, mehr
Kontakt zu anderen Leuten zu bekommen. Amüsier dich ein bißchen. Ihre Mutter.
Knurrig, anspruchsvoll, krank — aber immerhin ihre Mutter, deren einziges Kind
sie war, einundvierzig, fast zweiundvierzig Jahre alt, bis vor kurzem Jungfrau
und dann unter wenig denkwürdigen Umständen defloriert.
«Noch einmal dasselbe?» Er war aufgestanden und
griff nach ihrem Glas.
Warum nicht? Angenehme Wärme verbreitete sich in
ihrem Inneren, und wenn sie heimkam, konnte sie sich ein paar Stunden hinlegen,
wenn es sein mußte. Am Montag hatte Mutter ihren wöchentlichen
Bridgenachmittag, und allenfalls ein Atomangriff auf Nord-Oxford hätte die vier
boshaften alten Damen davon abhalten können, sich an dem kleinen, grün
bespannten Kartentisch im Hinterzimmer um Trümpfe und Strafpunkte zu rangeln.
«Du wirst mich noch betrunken machen.»
«Stell ich mir ganz nett vor...»
Sie kannte ihn inzwischen recht gut. Da stand er
an der Theke, in seinem teuren Anzug, ein paar Jahre älter als sie, drei
halbwüchsige Kinder, eine charmante, intelligente Frau, die ihm vertraute. Und
er wollte sie.
Aber aus irgendeinem Grunde wollte sie ihn
nicht. Der Gedanke, mit ihm intim zu werden, widerstrebte ihr.
Sie sah sich um, und einen Augenblick blieb ihr
Blick ganz hinten in der Ecke hängen. Aber Morse war nicht mehr da. Sie hatte
sich bei dem Wunsch ertappt, er möge bleiben, möge einfach nur da sein.
Natürlich hatte sie ihn erkannt, sobald sie hereingekommen war, und war sich
seiner Gegenwart sehr intensiv bewußt gewesen. Würde sie mit ihm ins Bett
gehen? Am meisten fesselten sie seine Augen. Blaugrau waren sie, kalt und doch
J irgendwie verletzlich und verloren. Sei nicht albern, sagte sie sich. Du hast
ja
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