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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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die schweren Laster wirbelten Gischt auf wie
Motorboote. Und dieser sogenannte Urlaub... An sonnigen Tagen hätte man aus dem
Zimmer im Swiss Lodore möglicherweise einen sehr schönen Blick gehabt.
Aber der Nebel war von den Bergen bis ins Tal gekrochen, Morse hatte gerade
noch den Rasen unter seinem Fenster mit den vereinsamt dastehenden weißen
Sesseln und Tischen erkennen können. Einige Gäste waren ständig mit dem Wagen
unterwegs, vermutlich auf der Suche nach einer etwas weniger durchfeuchteten
Landschaft. Doch die meisten saßen nur herum, lasen Taschenbuch-Krimis,
spielten Karten, schwammen in dem beheizten Pool, aßen, tranken, redeten
gelegentlich miteinander und wirkten alles in allem weit weniger trübsinnig als
Morse. Er fand keine auch nur einigermaßen attraktive Frau, die es darauf
angelegt hätte, ihrem wachsamen Ehemann zu entkommen, und die wenigen Frauen
ohne Begleitung, die in der Bar herumsaßen, waren entweder zu häßlich oder zu
alt. Im Schlafzimmer fand Morse einen Prospekt mit Robert Southeys Gedicht «How
the Waters Come Down at Lodore», aber er fand, daß selbst ein Poetus Laureatus
selten etwas so Banales von sich gegeben hatte. Und nach drei Tagen wußte Morse
nur zu gut, wie die Wasser in Lodore herunterkamen. Sie stürzten wie aus Kannen
von einem bleifarbenen Himmel.
    Am Freitag, dem 7. April, bekam er mit dem
Morgentee die Times aufs Zimmer. Nachdem er sich die Wettervorhersage
fürs Wochenende zu Gemüte geführt hatte, beschloß er, gleich nach dem Frühstück
abzureisen. Als er an der Rezeption sein Scheckbuch aus der Tasche zog,
flatterte ein gefaltetes Blättchen zu Boden. Er hatte es geistesabwesend von
dem Tisch am Eingang zu St. Frideswide’s genommen und eingesteckt. Jetzt las
er:
     
    KONZERT IM GEMEINDESAAL, ST. ALDATES
    Freitag, 7. April, 19.30 Uhr
     
    Stepptanzgruppe (Kinderkreis)
    Potpourri aus Gilbert and Sullivan (Kirchenchor)
    Viktorianisches Melodrama (Theatergruppe)
     
    Eintritt 20 Pence. Programm 5 Pence.
    Alle Gäste sind willkommen.
    (Einnahmen für die Turmreparatur)
     
    Diese Zeile mit ihren mannigfaltigen
Möglichkeiten beschäftigte Morse unaufhörlich, als er mit dem Lancia gen Süden
fuhr. Bröckelten die Zinnen also doch? Waren sie gebröckelt, als Lawson seinen
letzten Blick über die vertrauten Sehenswürdigkeiten der Stadt schweifen ließ?
Keine Jury befand gern auf Selbstmord, und hätte der Turm tatsächlich eine
Gefahr dargestellt, wäre das ein wichtiger Punkt bei der Verhandlung gewesen.
Aber um das zu entscheiden, brauchte Morse den Bericht, da stand ja alles drin.
Als er es um halb fünf endlich bis Oxford geschafft hatte, fuhr er sofort zum
Büro des Coroner.
    Der Bericht war — ließ man einmal die
Detailschilderungen von Lawsons vielfachen Verletzungen beiseite — unbestimmter,
als es Morse lieb war. Die Brüstung, von der Lawson in die Tiefe gestürzt war,
wurde überhaupt nicht erwähnt. Dennoch gab es da einen sehr interessanten
Abschnitt. «Mrs. Emily Walsh-Atkins bestätigte die Identität des Toten.
Zusätzlich sagte sie aus, sie sei nach dem Gottesdienst noch einige Minuten
allein in der Kirche geblieben und habe dann etwa fünf Minuten vor der Kirche
gewartet, weil sie sich ein Taxi bestellt hatte. Der Gottesdienst war etwas
früher als sonst zu Ende. Etwa zehn nach acht hörte sie einen fürchterlichen
Lärm im Friedhof, wandte sich um und stellte fest, daß Lawsons lebloser Körper
über dem Einfriedungsgitter hing. Glücklicherweise waren wenig später zwei
Polizisten an Ort und Stelle, und Mr. Morris brachte sie zurück in die Kirche,
damit sie sich hinsetzen und sich von dem Schreck erholen konnte...»
    Morse wußte, daß er keine Ruhe haben würde, bis
er mit Mrs. Walsh-Atkins gesprochen hatte, und ihretwegen saß er jetzt auch im
Gemeindesaal. (Nur ihretwegen, Morse?) In ihrem Heim hatte er sie knapp
verfehlt, aber man hatte ihm sagen können, wohin sie gegangen war.
    Meiklejohn hatte seine langatmige, ölige
Begrüßungsrede beendet, das Licht ging aus, jetzt ruckelte der Vorhang zur
Seite und gab den Blick auf die Stepptanzgruppe in ihrer bizarren Pracht frei.
Morse fand die Szene auf peinliche Weise belustigend und war total überrascht
von dem begeisterten Applaus für die kleinen Mädchen mit dem Plastikkopfputz,
die drei Minuten lang tapfer, wenn auch nicht synchron, gegen ungenügende
proben, angeborene Unbeholfenheit und die grauenvolle Begleitung der
Klavierspielerin angetanzt hatten. Zu allem Überfluß war

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