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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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(blinder Trottel, dachte Morse), über einen im Wege stehenden
Stuhl zu stolpern, als er Ihrer Ladyschaft Tee hereinbrachte. Zum Glück war
offenbar ein Großteil des Textes ursprünglich sehr witzig gewesen und entlockte
den Zuschauern sogar in dieser verballhornten Fassung gelegentlich höfliche Lacher.
Als sich der letzte Vorhang gnädig über dem Stück schloß, konnte Morse im
Publikum keine Spur von verlegener Erleichterung entdecken. Vielleicht waren
alle Gemeindeveranstaltungen so.
    Der Pfarrer hatte vorher bekanntgegeben, daß
nach Ende der Vorstellung Gelegenheit sei, eine Tasse Tee zu trinken, und Morse
war überzeugt davon, daß Mrs. Walsh-Atkins sich das nicht entgehen lassen
würde. Jetzt mußte er sie nur noch finden. Vergeblich sah er sich nach Miss
Rawlinson um. Offenbar hatte sie sich den Abend geschenkt. Das Putzen in der
Kirche war ihr wohl Buße genug. Er war ein bißchen enttäuscht. Der Saal leerte
sich jetzt rasch, aber Morse beschloß, noch ein, zwei Minuten zu warten. Er
nahm sich sein Programm vor, um nicht den Eindruck zu erwecken, er fühle sich
einsam.
    «Sie trinken doch noch eine Tasse Tee mit uns?»
Auch jetzt noch kam Meiklejohn gewissenhaft seinen Hirtenpflichten nach.
    Auf den Gedanken, abends um neun Tee zu trinken,
wäre Morse von selbst nie gekommen. «Ja, danke. Kennen Sie zufällig eine Mrs.
Walsh-Atkins? Ich möchte —»
    «Aber ja. Hier entlang, bitte. Ein wunderbarer
Abend, nicht wahr?»
    Morse murmelte Unverständliches und folgte
seinem Führer in den überfüllten Vorraum, wo eine dicke Dame der gewaltigen
Teemaschine eine dunkelbraune Flüssigkeit entlockte. Morse stellte sich brav in
die Schlange. Dabei bekam er das Gespräch der zwei Frauen vor ihm mit.
    «Er ist jetzt das vierte Mal dabei. Sein Daddy
wäre unheimlich stolz auf ihn gewesen.»
    «Niemand würde glauben, daß er blind ist. Wie er
so über die Bühne geht...»
    «Das machen die vielen Proben. Man muß eben
wissen, wo alles ist...»
    «Ja. Sie sind sicher sehr stolz auf ihn, Mrs.
Kinder.»
    «Sie haben ihn schon fürs nächste Stück
eingeladen, da muß er seine Sache wohl gut machen.»
    Also war der arme Kerl tatsächlich blind
gewesen. Und seine Rolle zu lernen und sich auf die Bühne zu wagen hatte ihn
vermutlich ebenso viel Überwindung gekostet wie einen Sehenden die Durchquerung
eines krokodilverseuchten Sumpfgebietes. ! Morse war plötzlich gerührt und beschämt.
Als er an der Reihe war, legte er ein Fünfzig-Pence-Stück auf den Teller für
das Teegeld und hoffte, daß niemand es gemerkt hatte. Er kam sich merkwürdig
fehl am Platz vor. Das waren gute Menschen, die an den schlichten Bindungen der
Familie und der christlichen Gemeinschaft ihre Freude hatten. Für sie war Gott
der Vater und nicht, wie in der neueren Theologie, ein fernes, fremdes Wesen.
Morse trank verlegen seinen Tee, zog wieder das Programm hervor und suchte nach
dem Namen des Butlers Ihrer Ladyschaft, dessen Mutter mit Recht so stolz und
glücklich war. Aber wieder wurde er gestört. Da stand Meiklejohn und neben ihm
eine winzige alte Dame, die an einem Keks knabberte.
    «Mr. — äh —»
    «Morse.»
    «Sie wollten gern Mrs. Walsh-Atkins
kennenlernen.»
    Morse, der sich neben ihr besonders riesig
vorkam, meinte, man könne sich doch kurz noch einmal in den Saal setzen. Er
stellte sich vor und sagte ihr, warum er hier war und was er wissen wollte.
Bereitwillig berichtete sie aus ihrer Sicht von den Ereignissen jenes
schrecklichen Tages, als Lawson zerschmettert vor ihr gelegen hatte. Dabei
wiederholte sie fast wörtlich das, was sie bei der Leichenschau gesagt hatte.
    Fehlanzeige, dachte Morse, bedankte sich aber
dennoch höflich und fragte, ob er ihr noch eine Tasse Tee bringen könne.
    «Eine genügt, Inspector. In meinem Alter... Aber
ich glaube, ich habe irgendwo meinen Regenschirm stehenlassen. ! Wenn Sie so
nett wären...»
    Morse verspürte das vertraute Kribbeln auf der
Kopfhaut. Auf dem Tischchen, an dem sie saßen, lag deutlich sichtbar der
Regenschirm. Kein Zweifel, mit dem Augenlicht der alten Dame haperte es
erheblich.
    «Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Mrs.
Walsh-Atkins?»
    «Können Sie schweigen, Inspector?»
    «Ja.»
    «Ich auch», raunte sie ihm zu.
     
     
    Ob es Durst war, der ihn in die Bar des Randolph trieb, oder der plötzlich erwachende Wunsch festzustellen, ob Miss Rawlinson
sich dort aufhielt, mochte er nicht näher untersuchen. Aber er traf keine
Bekannte, begnügte sich mit einem Bier und fuhr

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