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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Fleischeslust durch den
Heiligen Paulus befaßte, aber der Mittelpunkt des Gottesdienstes war eindeutig
die Messe. Für Morse war der Anfang nicht allzu vielversprechend gewesen, er
hatte sich nämlich um zwei Minuten verspätet und aus Versehen auf den Platz des
Kirchenältesten gesetzt, was ein peinliches Gewisper nötig gemacht hatte, während
die Gemeinde schon niederkniete, um ihre Missetaten zu beichten. Zum Glück
hatte Morse dort hinten gute Sicht, so daß er den anderen das Aufstehen,
Hinsetzen und Niederknien nachmachen konnte, obschon die Bekreuzigungen und
Kniefälle ihm zuweilen nicht nur gegen den Strich gingen, sondern auch seine
Reflexe überforderten. Besonders beeindruckend fand er die große Besetzung um
den Altar herum — Priester, Diakon, Subdiakon, Weihrauchschwinger, zwei
Meßgehilfen und vier Fackelträger und — gleichsam als Dirigent des Ganzen — ein
jüngerer, melancholisch dreinblickender Zeremonienmeister, der die Hände in
einer Pose ständigen Gebets vorgestreckt hatte. Es war fast wie eine gut
choreographierte Revue, an der sich, fand Morse, die Stepptanzgruppe ein
Beispiel hätte nehmen können. Die Gemeinde reagierte mit der gleichen Disziplin
auf diese Exerzitien, setzte sich, erhob sich, respondierte feierlich. Die Frau
neben Morse hatte ihn sehr bald als Greenhorn durchschaut und schob ihm ständig
die entsprechende Seite des Gebetbuches unter die Nase. Sie selbst sang in
schrillem, langgezogenen Sopran. Als Meiklejohn zu Beginn des Gottesdienstes
durch den Mittelgang schritt und Weihwasser versprengte, flehte sie den
Allmächtigen an, sie von ihren Sünden reinzuwaschen und weiß er, aha, weißer
als Schneehee werden zu lassen. Aber Morse hatte zumindest ein Plus — er kannte
fast alle Choräle. Und einmal gelang es ihm fast, ihr «Hailich, hailich,
hailich» zu übertönen. Meiklejohns Abkündigungen von der Kanzel entnahm er, daß
die Sache mit der Messe komplizierter war, als er gedacht hatte. Es gab sie
offenbar in drei Ausführungen — Stille Messe, Hochamt und Feierliches Hochamt.
Wenn die Stille Messe schlichter und ohne Chor, vielleicht gar ohne Organist
ablief, fragte es sich, was wohl Morris in der Kirche zu suchen hatte, als der
unglückliche Lawson vom Turm gefallen war. Es mochte Leute geben, die in die
Kirche gingen, weil ihnen gerade danach war, aber... Es konnte sich jedenfalls
lohnen, die Sache zu überprüfen. Noch etwas Aufschlußreiches kam zutage. Mit
Ausnahme von Morse nahmen alle Besucher das Abendmahl. Der Kirchenälteste,
dessen Platz er beinahe okkupiert hatte, trieb sie unauffällig, aber energisch
in Richtung Chor und empfing dann — offenbar war das eine geheiligte Tradition
— als letzter selbst das Sakrament. Josephs war Kirchenältester gewesen,
Josephs mußte am Abend seines Todes als letzter am Gitter zum Chor gekniet
haben. Und Josephs hatte nach Aussage des Pathologen sehr merkwürdige Dinge im
Magen gehabt. Konnte es sein, daß Josephs am Altar vergiftet worden war? Ein
Priester mit dem Kelch in der Hand, soviel war Morse inzwischen klargeworden,
konnte großes Unheil anrichten, wenn er es darauf anlegte; denn wenn er fertig
war, konnte er alle Beweise vernichten, ohne daß ihn jemand daran hinderte. Es
gehörte einfach zum Ritual. Kelch ausspülen, abwischen, bis zum nächsten
Gebrauch in den Schrank stellen. Unter den Augen so vieler Statisten war das
natürlich ein etwas heikles Unterfangen. Doch an dem Abend, an dem Josephs
ermordet worden war, hatten sie das Stück bestimmt in kleinerer Besetzung
gespielt. Aber halt, auch diese Sache hatte einen Haken. Es schien, daß der Priester
selbst den Kelch bis zur Neige leeren mußte, und zwar vor der ganzen Gemeinde.
Konnte er nicht einfach so tun, als tränke er, nur um das Zeug später
wegzukippen? Vielleicht war ja auch der Kelch leer gewesen.
    Der Möglichkeiten gab es viele, und Morses
Phantasie schwang sich in Kirchturmhöhen auf, als er aus der kühlen Kirche auf
den sonnigen Cornmarket trat.
     
     
     

12
     
    Als Morse am Montag morgen mit klarem Kopf
aufwachte, stellte er einigermaßen erleichtert fest, daß ihm wieder das
liebliche Antlitz der Vernunft lächelte. Er beschloß, sich erst einmal in aller
Ruhe mit dem Problem zu befassen, statt die Lösung vorwegzunehmen. Im Grunde
gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder hatte Lawson diesen Josephs umgebracht
und dann, von Reue geplagt, Selbstmord begangen — eine verständliche Reaktion.
Oder ein Unbekannter hatte Josephs

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