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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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die Gruppe mit
zwölfköpfiger Besetzung angetreten, aber einer der Winzlinge hatte an einer entscheidenden
Stelle eine Links- statt einer Rechtsdrehung gemacht und war tränenüberströmt
in die Kulissen entfleucht. Trotz allem — das Publikum klatschte wie besessen
und ruhte nicht, bis die Ballettmeisterin (alias Pianistin) erschien, die
unglückselige, jetzt schüchtern lächelnde kleine Ballettratte an der Hand, die
von allen gefeiert wurde wie eine Primaballerina von Sadler’s Wells.
    Die Auswahl aus Gilbert and Sullivan war
ausgezeichnet, und Morse konstatierte, daß der Chor von St. Frideswide’s
offenbar einige echte Talente hatte. Diesmal wurde der Flügel zum Glück von
sehr viel fähigeren Händen bearbeitet, die keinem Geringeren als Mr. Sharpe
gehörten, dem früheren Stellvertreter von Paul Morris. Morris war in der Kirche
gewesen, als Josephs ermordet wurde. Und Morris war vor der Kirche gewesen, als
Lawson gefunden wurde. So schwierig dürfte es doch nicht sein, ihm auf die Spur
zu kommen, ihm oder Brenda Josephs. Irgendwo mußten sie stecken, mußten Geld
verdienen, mußten Versicherungsnummern haben, eine Wohnung... Mit
atemberaubender Präzision verstummten die Sänger nach dem letzten Akkord aus
dem Finale des Mikado. Damit war ihr Teil des Programms beendet. Sie
wurden wohlwollend, wenn auch nicht besonders anhaltend beklatscht.
    Es dauerte gute fünf Minuten, ehe das
viktorianische Melodrama anfing. Man hörte das Quietschen und Poltern von
Möbeln, zweimal ging der Vorhang vorzeitig ein Stück weit auf, und Morse sah
sich noch einmal den Bericht des Coroners über Lawsons Tod an. Da war zum
Beispiel die Aussage dieses Thomas: «Er hatte gerade seinen Wagen in der St.
Giles abgestellt und ging in Richtung Broad Street, als er jemanden auf dem
Turm von St. Frideswide’s bemerkte. Er konnte sich nicht erinnern, daß dort
oben vorher jemand gestanden hatte, aber es war nicht ungewöhnlich, Leute auf
dem Turm von St. Mary’s in the High oder Carfax stehen zu sehen, die sich an
dem Blick über Oxford erfreuten. Er glaubte, daß die Gestalt schwarz gekleidet
war. Sie blickte nach unten, den Kopf über die Brüstung gebeugt...» Das war
eigentlich alles. Erst später hatte er von dem Unglück erfahren, das sich an
diesem Vormittag zugetragen hatte, und seine Frau hatte ihn dazu bewogen, die
Polizei anzurufen. Viel war mit dieser Aussage nicht anzufangen, aber der Mann
mußte der letzte gewesen sein, der Lawson lebend gesehen hatte. Vielleicht war
er aber auch nur der erste — nein, der zweite, der Lawson tot gesehen hatte.
Morse suchte nach den entscheidenden Worten. «...blickte nach unten, den
Kopfüber die Brüstung gebeugt...» Wie hoch war diese Brüstung? Bestimmt nicht
höher als einen Meter. Und warum hatte er Lawsons Kopf ins Spiel gebracht?
Warum hatte er nicht einfach gesagt «...über die Brüstung gebeugt»?
    Und warum: «...blickte nach unten...»? Kümmerte
es einen Mann, der dabei war, sich in den Tod zu stürzen, wo er landen würde?
Gerade ein Pfarrer, sollte man denken, würde in so einem Augenblick eher in
höheren Sphären Trost suchen, so tief seine Verzweiflung auch sein mochte. Aber
wenn Lawson da schon tot gewesen war... wenn jemand...
    Endlich hub das Melodram an, und Morse dachte,
daß einer primitiveren und stümperhafteren Darbietung wohl selten die Ehre
einer öffentlichen Aufführung zuteil geworden war. Das Stück war anscheinend im
Hinblick auf eine möglichst große Besetzung und auf möglichst kurze Auftritte
ausgesucht worden, was den Vorteil hatte, die erschütternde Talentlosigkeit der
Mitwirkenden nicht allzu deutlich werden zu lassen. Der bärtige, einarmige Held
— immerhin beherrschte er seinen Text und gab ihn vernehmlich von sich — trampelte
in knarrenden Armystiefeln herum und führte ein entscheidendes Telefongespräch,
indem er in die Hörmuschel eines lächerlich modernen Apparates sprach. Eine der
zahlreichen Zofen war genötigt, bei jeder zweiten Zeile ihren Text zu
konsultieren, der an der Unterseite der Kehrichtschaufel klebte. Einzig die
Leistungen der Hauptdarstellerin bewahrten das Stück davor, zur Farce zu
werden. Der Charme und die Gewandtheit der jungen Blondine standen in krassem
Gegensatz zu der sie umgebenden, rührend unzulänglichen Mannschaft. Sie schien
die Rollen aller Mitspieler im Kopf zu haben und kaschierte ihre Schnitzer und
Ausrutscher mit bewundernswerter Geistesgegenwart. Einmal bewahrte sie einen
der Butler davor

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