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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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ermordet und dann, um das Maß vollzumachen,
auch noch Lawson auf seine Liste gesetzt. Wahrscheinlicher war ersteres,
besonders falls Lawson sich von seinem Kirchenältesten auf irgendeine Weise
bedroht fühlte, falls der Dolch in Josephs’ Rücken Lawson gehört hatte und
falls Lawson in den Wochen vor Josephs’ Tod wie auch in den Wochen danach
Kummer oder Sorgen hatte erkennen lassen. Was Morse jetzt fehlte, war ein
Gesprächspartner. Irgendjemand mußte einiges über dieses dreifache «Falls»
wissen. Und so klopfte er um Viertel vor zehn etwas zögernd an der Manning
Terrace Nummer 14. Zögernd erstens deshalb, weil es ihm widerstrebte, den
Eindruck zu erwecken, er laufe der schönen Ruth Rawlinson nach, und zweitens,
weil er nicht wußte, ob er an die richtige Tür geklopft hatte, denn die beiden
nebeneinanderliegenden Eingänge waren mit 14 B und 14 A bezeichnet. Es sah aus,
als sei das Haus erst vor kurzem umgebaut worden. Eine der Türen mußte
unmittelbar ins Obergeschoß, die andere ins Parterre führen.
    «Es ist offen», ließ sich eine Stimme hinter der
Tür von 14 A vernehmen. «Weiter komme ich nicht.»
    Ausnahmsweise hatte er auf Anhieb das Richtige
getroffen. Ein schmaler teppichbelegter Gang mündete in zwei Stufen (die Treppe
war unmittelbar hinter einer Zwischenwand links, und durch den Umbau war hier
wenig Platz geblieben), und dort, wo die Stufen aufhörten, saß Mrs. Alice
Rawlinson in ihrem Rollstuhl, einen Spazierstock mit Gummizwinge auf dem Schoß.
    «Was wollen Sie?»
    «Entschuldigen Sie bitte die Störung. Mrs.
Rawlinson, nicht wahr?»
    «Ich hab gefragt, was Sie wollen, Inspector.»
    Morse war die Verblüffung offenbar an der
Nasenspitze abzulesen. «Ruthie hat mir von Ihnen erzählt», erläuterte die alte
Dame.
    «Ach so. Ich wollte nur wissen, ob —»
    «Nein, sie ist nicht zu Hause. Kommen Sie rein.»
Sie drehte ihren Stuhl mit geübtem Griff herum. «Machen Sie die Tür zu.» Morse
gehorchte und wurde ohne Umstände beiseite geschoben, als er versuchte, Mrs.
Rawlinson durch die Tür am Ende des Ganges zu helfen. Sie deutete auf einen
Sessel in dem ansprechend eingerichteten Wohnzimmer und hielt mit ihrem
Rollstuhl knapp einen Meter vor ihm an. Das Vorgeplänkel war vorbei. Sie ging
sofort zum Angriff über.
    «Wenn Sie meine Tochter zu einem unmoralischen
Wochenende überreden wollen, haben Sie sich verrechnet. Das wollen wir mal
gleich klarstellen.»
    «Aber Mrs. Raw—»
    Der gefährlich nah vor seiner Nase geschwenkte
Stock brachte ihn zum Schweigen. Aggressive alte Hexe, dachte Morse.
    «Ich mißbillige vieles an der heutigen Jugend — an
jungen Männern wie Sie einer sind, meine ich—, besonders ihr unerträglich
schlechtes Benehmen. Aber ich glaube, daß sie in einem recht haben.»
    «Hören Sie, Mrs. Raw—» Die Gummizwinge war knapp
zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, und er verstummte mitten im Wort.
    «Sie sind vernünftig genug, miteinander zu
schlafen, ehe sie heiraten. Stimmen Sie mir zu?»
    Morse nickte schwach.
    «Wenn Sie sich auf fünfzig Jahre mit jemandem
zusammentun wollen...» Sie
schüttelte den Kopf. «Nicht, daß ich fünfzig Jahre verheiratet gewesen wäre.»
Die Stimme hatte etwas von ihrer Schärfe verloren, doch ni cht für lange. «Aber wie gesagt, Sie können Ruth
nicht haben. Ich brauche sie, und sie ist meine Tochter. Ich habe den ersten
Anspruch.»
    «Ich versichere Ihnen, Mrs. Rawlinson, daß ich
nicht die leiseste Absicht —»
    «Sie wären nicht ihr erster.»
    «Das wundert mich nicht, ich —»
    «Sie war ein schönes Mädchen, meine Ruthie.» Das
klang sanft, doch die Augen blickten weiterhin scharf und berechnend. «Aber
inzwischen ist sie auch nicht mehr ganz taufrisch.»
    Morse nahm sich vor, friedlich zu bleiben. Die
Alte war wohl schon ein bißchen verkalkt.
    «Wissen Sie, was mit ihr los ist?» Einen Moment
dachte Morse angeekelt, sie würde gleich von Hämorrhoiden oder Körpergeruch
anfangen, aber sie machte nur ein böses Gesicht und wartete offenbar auf eine
Antwort.
    Er wußte sehr wohl, was mit Ruth Rawlinson los
war. Sie war genötigt, sich Tag für Tag mit diesem verbitterten alten Drachen
herumzuärgern — das war mit ihr los.
    «Nein», sagte er. «Was denn?»
    Sie verzog höhnisch die Lippen. «Schwindeln Sie
nicht, Inspector. Sie wissen ebensogut wie ich, was mit ihr los ist.»
    Morse nickte. «Stimmt. Ich glaube, ich könnte es
nicht sehr lange mit Ihnen aushalten.»
    Jetzt brachte die Alte ein richtiges

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