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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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mit dem Bus nach Hause. Dort genehmigte
er sich einen großzügig bemessenen Whisky pur und legte Vier letzte Lieder auf. Wunderschön. «Melismatisch» hieß das auf dem Cover...
    Es wurde Zeit, mal früh schlafen zu gehen, und
er hängte in der Diele seine Jacke auf. Aus einer der Taschen ragte das
Programm. Er schlug es auf und las.
    «Butler Ihrer Ladyschaft: John Kinder.» Und dann
bekam er plötzlich Herzklopfen, als er die oberste Zeile in der Besetzungsliste
sah: «Ihre Ladyschaft, die Ehrenwerte Amelia Barker-Barker: Ruth Rawlinson.»
     
     
     

11
     
    Medien und Hellseher behaupten, größere
Fähigkeiten zu haben, wenn ihnen der Zutritt zu Räumlichkeiten ermöglicht wird,
in denen die Abwesenden — Vermißte oder schlichtweg Tote — ein paar verstreute
Emanationen hinterlassen haben. Auch Mördern sagt man nach, es zöge sie
unwiderstehlich zum Tatort zurück. Am Sonntag morgen ertappte sich Morse bei
der Überlegung, ob wohl Josephs’ Mörder je wieder St. Frideswide’s betreten
hatte. Sehr wahrscheinlich, dachte er. Es war eine der wenigen positiven
Gedanken, die er seit Freitag abend zustande gebracht hatte. Sein Gehirn
streikte, und am Samstag hatte er unwiderruflich beschlossen, die Finger von
weiteren Untersuchungen dieses rätselhaften Falles zu lassen, der ihn im
übrigen ja auch gar nichts anging. Vormittags hatte er noch einmal den
Hotelführer als Orakel benützt, aber nach Inverness mochte er sich denn doch
nicht schicken lassen. Nachmittags hatte er zwei Stunden vor dem Fernseher
vertrödelt und sich die Rennen in Doncaster angesehen. Er war zappelig und
langweilte sich. Es gab so viele Bücher, die er lesen, so viele Platten, die er
abspielen konnte, aber er brachte für nichts Begeisterung auf. Diese
Lustlosigkeit hielt bis zum Sonntag morgen an, und nicht einmal die erotischen
Delikatessen aus der News of the World vermochten ihn aufzuheitern.
Mißmutig räkelte er sich in seinem Sessel und ließ den Blick ziellos über die
bunten Buchrücken gehen. Ob Baudelaire zu seiner Stimmung paßte? Wie hieß es da
von dem Prinzen in «Les Fleurs du mal»? «Riche, mais impuissant, jeune et
pourtant très vieux...»
    Plötzlich fühlte Morse sich besser. So ein
Quatsch. Er war weder impotent noch senil. Auf, laßt uns Taten sehen.
    Er wählte die Nummer. «Miss Rawlinson?»
    «Am Apparat.»
    «Sie können mich vielleicht nicht mehr
unterbringen. Wir haben uns in St. Frideswide’s kennengelernt. Am Montag.»
    «Doch, ich erinnere mich.»
    «Ich — äh — ich wollte heute vormittag in die
Kirche gehen.»
    «In unsere Kirche?»
    «Ja.»
    «Dann müssen Sie sich beeilen, sie fängt um halb
elf an.»
    «Ach so. Ja dann... vielen Dank auch.»
    «Sie scheinen sich ja plötzlich sehr für uns zu
interessieren, Inspector», sagte sie mit einer Spur freundlicher Belustigung in
der Stimme. Morse versuchte sie zum Weitersprechen zu bewegen.
    «Wußten Sie, daß ich am Freitagabend in dem
Konzert war?»
    «Natürlich.»
    Morse freute sich geradezu kindlich über dieses
«Natürlich». Nur weiter so, meinjunge.
    «Ich — äh — habe Sie hinterher nicht gesehen.
Und in dem Stück habe ich Sie auch nicht erkannt.»
    «Ja, was eine blonde Perücke so ausmacht...»
    «Wer ist denn das?» rief jemand aus dem
Hintergrund.
    «Wie meinten Sie?» fragte Morse.
    «Das war nur meine Mutter. Sie wollte wissen,
wer Sie sind.»
    «Ah so.»
    «Ja, wie gesagt, Sie müssen sich beeilen, wenn
Sie...»
    «Gehen Sie hin? Ich könnte Sie —»
    «Nein, heute nicht. Mutter hatte einen ihrer
Asthmaanfälle, ich kann sie nicht allein lassen.»
    «Verstehe.» Morse bemäntelte seine Enttäuschung
mit einem munteren Wort des Abschieds und legte auf. «Verdammter Mist», sagte
er. Aber er würde zur Kirche gehen. Nicht wegen Ruth Rawlinson. Nur weil er ein
bißchen Atmosphäre schnuppern, die eine oder andere dieser vertrauten
Emanationen auffangen wollte. Ob diese Rawlinson da ist oder nicht, sagte er
sich, ist mir piepegal.
    Dieser erste Kirchgang nach einem Jahrzehnt war
ein bemerkenswertes Erlebnis, fand Morse, wenn er später daran zurückdachte.
St. Frideswide’s hatte das Hochkirchliche offenbar so weit getrieben, wie es
nur eben ging. Gewiß, es gab keine Sammelbüchse für den Peterspfennig und keine
Schriften, in denen die Unfehlbarkeit des Papstes verkündet wurde, aber sonst
schien diese Kirche kaum etwas von Rom zu trennen. Es wurde zwar eine Predigt
gehalten, die sich mit der humorlosen Verdammung der

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