Eine Messe für all die Toten
Lächeln
zustande. «So langsam erkenne ich den Mann wieder, den Ruthie mir geschildert
hat.»
Vielleicht, dachte Morse, ist sie doch nicht so
verkalkt, wie ich gedacht habe.
«Sie wirken bestimmt manchmal etwas
einschüchternd.»
«Immer.»
«Hätte Ruthie geheiratet, wenn Sie nicht gewesen
wären?»
«Sie hatte Chancen — auch wenn ich von den
Männern nicht viel gehalten habe.»
«Echte Chancen?»
Sie wurde wieder ernst. «Eine bestimmt.»
«Ja dann...» Morse machte Anstalten aufzustehen,
aber er kam nicht weit.
«Wie war Ihre Mutter?» fragte sie.
«Gütig und liebevoll. Ich denke oft an sie.»
«Ruthie wäre eine gute Mutter geworden.»
«Dafür ist es noch nicht zu spät.»
«Sie wird morgen zweiundvierzig.»
«Na, hoffentlich backen Sie ihr wenigstens einen
Kuchen», sagte Morse halblaut.
«Was sagen Sie da? Backen? Kochen? Wie denken
Sie sich das? Ich komme ja nicht mal bis zur Haustür.»
«Versuchen Sie es denn?»
«Sie werden unverschämt, Inspector. Es wird
Zeit, daß Sie gehen.» Aber als Morse aufstand, steckte sie zurück. «Nein,
entschuldigen Sie. Setzen Sie sich bitte wieder. Ich bekomme nicht viel Besuch.
Geschieht mir ganz recht, werden Sie jetzt denken...»
«Hat Ihre Tochter viel Besuch?»
«Warum fragen Sie?» Ihre Stimme war wieder
scharf geworden.
«Nur um Konversation zu machen.» Morse hatte
genug von der Alten, aber ihre Antwort nagelte ihn auf dem Sessel fest.
«Sie denken an Josephs, wie?»
Nein, an Josephs hatte er nicht gedacht. «Ganz
recht», sagte er und versuchte, seine Erregung zu verbergen, so gut es ging.
«Der war nicht ihr Typ.»
«Und er hatte eine Frau.»
«Was hat das damit zu tun?» schnaubte sie. «Bloß
weil Sie selber Junggeselle sind...»
«Wissen Sie das?»
«Ich weiß eine Menge.»
«Wissen Sie, wer Josephs umgebracht hat?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich weiß auch nicht,
wer Lawson umgebracht hat.»
«Aber ich, Mrs. Rawlinson. Er hat sich selbst
umgebracht. Es steht im Bericht des Coroners. Das ist wie beim Cricket. Wenn
der Schiedsrichter sagt, daß Sie ausgeschieden sind, ist daran nichts mehr zu
ändern, und Sie können es am nächsten Tag in der Zeitung nachlesen.»
«Für Cricket hab ich nichts übrig.»
«Hatten Sie für Josephs etwas übrig?»
«Nein. Und ich hatte auch für Lawson nichts
übrig. Er war homosexuell.»
«Wirklich? Von einer Verurteilung war mir nichts
bekannt.»
«Sie sind doch sicher nicht so naiv, wie Sie
tun, Inspector.»
«Nein», sagte Morse.
«Ich hasse Homos.» Der Stock hob sich drohend,
die Hand, die ihn hielt, war von langen Jahren im Rollstuhl kräftig und
muskulös. «Ich würde sie mit Wonne alle erwürgen.»
«Und ich würde Sie mit Wonne in die Liste meiner
Verdächtigen aufnehmen, Mrs. Rawlinson. Aber leider muß Lawsons Mörder — wenn
es denn einen gegeben hat — auf den Kirchturm gestiegen sein.»
«Wenn Lawson nicht in der Kirche umgebracht
worden ist und jemand anders ihn nach oben getragen hat.»
Das war eine Idee. Morse nickte nachdenklich und
überlegte, wieso er darauf nicht selber gekommen war.
«Jetzt muß ich Sie aber leider doch raussetzen,
Inspector. Ich habe heute meinen Bridgenachmittag, und da übe ich vorher gern
noch ein paar Tricks.» Auch in diesem Spiel hatte sie alle Tricks gewonnen, und
Morse akzeptierte das.
Ruth schloß ihr Fahrrad ab. Als sie aufblickte,
sah sie Morse in der Tür stehen und am Ende des Ganges ihre Mutter im Rollstuhl
sitzen.
«Tut mir leid, daß ich Sie verpaßt habe», sagte
Morse, «aber ich habe mich nett mit Ihrer Mutter unterhalten. Eigentlich wollte
ich Sie fragen, ob Sie morgen abend mit mir ausgehen wollen.» Mit dem blassen
Gesicht und dem unordentlichen Haar sah sie plötzlich sehr unscheinbar aus, und
Morse überlegte einigermaßen ratlos, warum der Gedanke an Ruth ihn derart
verfolgt hatte. «Da naben Sie Geburtstag, stimmt’s?»
Sie nickte zögernd.
«Ihre Mutter sagt, es würde Ihnen guttun, sie
freut sich sogar. Nicht wahr, Mrs. Rawlinson?»
«Ich würde es gern tun, aber —»
«Kein Aber, Ruthie. Der Inspector hat ganz
recht, ich finde, es würde dir sehr guttun.»
«Dann hole ich Sie gegen sieben ab», sagte
Morse.
Ruth griff sich ihr Einkaufsnetz und trat zu
Morse auf die Schwelle. «Schönen Dank, Mutter, das ist lieb von dir. Aber
leider kann ich Ihre Einladung nicht annehmen. Ich bin nämlich schon
verabredet.»
Das Leben war doch seltsam eingerichtet. Noch
vor ein paar Sekunden war sie ihm vorgekommen wie
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