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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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überlegte, wie viele
Schlafzimmer sie wohl noch brauchen würde, ehe ihre Gebärfähigkeit zu Ende war.
    In Eves Zimmer roch es nach Urin, und Morse
rümpfte an -1 geekelt die Nase, während er sich über die
nackten Dielenbretter beugte. Die Donald Ducks auf den frisch tapezierten
Wänden schienen sich über seine ziellose Erkundung lustig zu machen. Er ging
schnell hinaus und machte die Tür hinter sich zu.
    «In den anderen Räumen ist auch nichts, Sir»,
sagte Lewis, als er auf dem kleinen Treppenvorplatz wieder zu Morse stieß. Dort
waren die Wände in hellem Beige gestrichen, die Balken in weißem Lack
abgesetzt. Morse, dem die Farbkombination gefiel, sah zur Decke — und stieß
einen leisen Pfiff aus. Direkt über seinem Kopf war eine kleine rechteckige
Falltür, die ebenfalls liebevoll gestrichen war.
    «Haben Sie eine Leiter?» rief Morse nach unten.
    Zwei Minuten später steckte Lewis den Kopf durch
die Luke und leuchtete mit einer Taschenlampe zwischen den Dachsparren herum.
Hier und da fiel das Nachmittagslicht durch Ritzen zwischen nicht ganz sauber
gelegten Ziegeln, aber ansonsten wirkte der überraschend große Dachboden düster
und sehr still, als Lewis sich vorsichtig hochzog und von Balken zu Balken
ging. Zwischen der Falltür und dem Schornsteinkasten stand eine große Truhe,
und als Lewis den Deckel aufklappte und die — angeschimmelten Buchdeckel
anleuchtete, krabbelte eine dicke schwarze Spinne rasch außer Reichweite. Aber
Lewis hatte nichts gegen Spinnen. Er sah gewissenhaft nach, ob in der Truhe tatsächlich
nur Bücher waren, dann stöberte er in dem übrigen Trödel herum. Er fand einen
zusammengerollten Union Jack an einer langen blauen Stange. Ein altes Feldbett,
das noch aus der Zeit von Baden-Powell zu stammen schien. Ein brandneues, aus
unerfindlichen Gründen mit braunem Klebestreifen repariertes ' Klobecken. Einen
antiquierten Teppichkehrer. Zwei Rollen gelbes Isolierband. Und ein großes, undefinierbares
Bündel, das zwischen Balken und Dachschräge steckte. Lewis beugte sich vor und
streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen berührten etwas Weiches, der
Lichtstrahl erfaßte einen schwarzen Schuh; die Schuhspitze, die an einem Ende
heraussah, war mit grauem Staub bedeckt.
    «Was gefunden?» Lewis antwortete nicht. Die
Schnur, die das Bündel zusammenhielt, riß, als er daran zog, und vor ihm lag
eine Kollektion guter Kleidung: Hosen, Hemden, Unterwäsche, Socken, Schuhe und
ein halbes Dutzend Schlipse, darunter einer in hellem Cambridge-Blau.
    Lewis’ ernstes Gesicht zeigte sich in der Luke.
«Am besten kommen Sie selber mal hoch, Sir.»
    Sie fanden noch eine Rolle mit ganz ähnlicher
Kleidung, nur kleiner. Die beiden Paar Schuhe sahen aus, als könnten sie einem
etwa elf- bis zwölfjährigenjungen passen. Auch ein Schlips war dabei. Ein
Schlips in den Farben der Roger Bacon-Gesamtschule.
     
     
     

23
     
    Ein Großteil der Besucher waren säuerliche alte
Jungfern von fünfzig bis sechzig Sommern, von denen etliche sich neugierig nach
den beiden Fremden umsahen, die in der hintersten Bank saßen, neben dem leeren
Platz, auf dem jetzt unübersehbar «Kirchenältester» stand. Lewis fühlte sich
sehr unbehaglich, was man ihm auch anmerkte, während Morse sich scheinbar
munter und unbeschwert umsah.
    «Wir machen es wie die anderen, klar?» flüsterte
Morse, als das traurig-mahnende Geläut der Kirchenglocke verstummt und der Chor
in feierlicher Prozession aus der Sakristei über den Hauptgang geschritten war,
gefolgt von den Weihrauchschwenkern, Meßgehilfen und Fackelträgern, dem
Zeremonienmeister und drei würdigen Gestalten, die ähnlich, aber nicht
identisch gekleidet waren. Der letzte trug Albe, Barett und Meßgewand. Im Chor
nahmen die Mitwirkenden rasch und routiniert ihre gewohnten Plätze ein, dann
herrschte wieder Ruhe. Ruth Rawlinson, in schwarzem quadratischen Chorhut,
stand unmittelbar unter einem steinernen Engel. Inzwischen hatte auch der
Kirchenälteste lautlos seinen Platz eingenommen und reichte Morse einen Zettel:
«Satz: Iste Confessor. Palestrina», worauf Morse weise nickte und ihn an
Lewis weiterreichte.
    Zur Halbzeit legte eine der würdigen Gestalten
das Meßgewand ab und bestieg die Kanzel, um die Gemeinde vor den Gefahren und
Torheiten der Unzucht zu warnen. Morse saß da wie jemand, der diese Mahnung
nicht so recht auf sich zu beziehen weiß. Vorher hatte sich sein Blick ein-
oder zweimal mit dem von Ruth gekreuzt, aber die Sängerinnen waren jetzt

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