Eine Minute der Menschheit.
weitergehende Methode des Zusammenpressens irgendwelcher Erscheinungen), nicht wiedergeben kann. Das Buch selbst ist ja schon ein Extrakt, eine extreme Zusammenfassung der Menschheit. In einer Rezension kann man nicht einmal die allermerkwürdigsten Teile des Buches erwähnen. Geisteskrankheiten: Es zeigt sich, daß wir heute pro Minute mehr Wahnsinnige haben, als es vor etwa fünfzehn Generationen überhaupt Menschen auf der Erde gab. Das ist so, als würde das damalige gesamte Menschengeschlecht heute aus lauter Verrückten bestehen. Die Tumorkrankheiten, die ich in meiner ersten medizinischen Arbeit vor 2.5 Jahren »somatischen Wahnsinn« nannte, bei dem der Körper sich selbstmörderisch gegen sich selbst wendet, bilden eine Ausnahme von der Regel des Lebens, einen Irrtum seiner Dynamik, aber diese Ausnahme wird, statistisch erfaßt, zu einem ungeheuren Moloch, diese Masse krebsbefallenen Gewebes, auf eine Minute umgerechnet, ist gleichsam ein Zeugnis der Blindheit der Prozesse, die uns doch ins Leben gerufen haben. Daneben, einige Seiten weiter, gibt es noch düsterere Dinge. Die Kapitel, die Akten der Gewalt, sexuellen Perversionen, abstrusen Kulten, Mafias und Geheimbünden gewidmet sind, will ich mit keinem Wort erwähnen. Das Bild dessen, was Menschen Menschen antun, um sie zu peinigen, zu erniedrigen, zu vernichten, sie in krankem und gesundem Zustand auszubeuten, in ihrem Alter, ihrer Kindheit, ihrem Siechtum, und zwar ununterbrochen, in jeder einzelnen Minute — dieses Bild kann selbst dem eingefleischtesten Menschenfeind den Atem rauben, der glaubte, keine menschliche Niedertracht sei ihm fremd. Doch genug davon. War dieses Buch notwendig? Ein Mitglied der Französischen Akademie hat in »Le Monde« geschrieben, daß es unvermeidlich war, daß es geschrieben werden mußte. Diese unsere Zivilisation, meint er, die alles mißt, berechnet, bewertet, wiegt, die alle Gebote und Verbote mißachtet, alles wissen will, die aber immer mehr an Übervölkerung leidet, wird dadurch für sich selbst immer weniger überschaubar. Auf nichts stürzt sie sich mit einer solchen Verbissenheit wie auf das, was ihr immer noch Widerstand leistet. Kein Wunder also, daß sie ihr Selbstbildnis haben wollte, so getreu, wie es dieses Bildnis bisher nicht gegeben hat, und ebenso objektiv — ist doch Objektivismus das Gebot der Vernunft und der Stunde -, also hat sie, dank der technischen Modernisierung, ein Foto erhalten, wie es der Reporter mit seiner Kamera schießt: eine nicht retuschierte Momentaufnahme. Der ältere Herr hat die Frage nach der Notwendigkeit der »Einen Minute« mit einer Finte beantwortet: Sie ist erschienen, weil sie als Frucht ihrer Zeit erscheinen mußte. Die Frage bleibt aber offen. Ich würde an ihre Stelle eine bescheidenere setzen: Zeigt uns dieses Buch wirklich das, was als ganze Menschheit nicht zu zeigen ist? Die statistischen Tabellen vertreten hier das Schlüsselloch, durch das der Leser, ein Peep-ing Tom, den riesigen, nackten Leib der Menschheit, die ihren Alltagsgeschäften nachgeht, beobachtet. Durch ein Schlüsselloch kann man nicht alles auf einmal sehen. Was vielleicht noch wichtiger ist: Der heimliche Beobachter steht sozusagen Äug in Äug nicht nur mit seiner ganzen Spezies, sondern auch mit deren Schicksal. Man muß zugeben, daß »Eine Minute« eine Unmenge erstaunlicher anthropologischer Daten enthält — in den Kapiteln über Kulturen, Religionen, Ritualen, Sitten und Bräuchen, weil, obwohl es nur Zahlenagglomerate sind (oder vielleicht eben deswegen), sie uns eine verblüffende Mannigfaltigkeit der Menschen, trotz der Identität ihrer Anatomie und Physiologie, präsentieren. Komisch, daß man nicht die Zahl der Sprachen errechnen kann, deren sich die Menschen bedienen. Es ist nicht genau bekannt, wie viele es sind, man weiß nur, daß es über viertausend sind. Selbst die Spezialisten haben sie bis jetzt nicht alle identifiziert; die Sache ist um so schwieriger festzustellen, als manche Sprachen kleiner ethnischer Gruppen zusammen mit diesen Gruppen aussterben; überdies streiten sich die Linguisten über den Status bestimmter Sprachen. Einige sehen sie als Dialekte und Idiome an, andere als separate taxonomi-sche Einheiten. Solche Stellen, wo die Johnsons die Notwendigkeit eingestehen, auf die Umrechnung aller Daten »pro Minute« zu verzichten, gibt es wenige. Trotzdem empfindet man eine gewisse Erleichterung gerade bei diesen Stellen, zumindest ich habe sie empfunden. Die Sache
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