Eine Minute der Menschheit.
ist aber dieser Determinismus, eine Marotte der Rationalisten des 19. Jahrhunderts, gefallen und wird nicht mehr aufstehen, aber auf eine unerwartet wirksame Weise ist an seine Stelle die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit ihrer Statistik getreten. Das Schicksal einzelner Individuen ist ebenso unvoraussehbar wie das Schicksal einzelner Gaspartikelchen, aber aus der Riesenanzahl der einen wie der anderen ergeben sich Regelmäßigkeiten, die alle zusammen betreffen, obgleich sie sich nicht auf ein einzelnes Molekül oder einen einzelnen Menschen beziehen. Die Wissenschaft hat also nach dem Sturz des Determinismus ein Umzingelungsmanöver vollzogen und sich von einer anderen Seite her an den Mann aus dem Kellerloch herangemacht. Es ist leider nicht wahr, daß es in einer Minute nicht die leiseste Spur des Geisteslebens der Menschheit gibt. Ein so dichtes Abschließen dieses Lebens im Kopf, daß es sich nach außen nicht anders als bloß durch Worte manifestiert, ist eine verständliche Berufsgewohnheit von Literaten und anderen Intellektuellen, die, wie uns das Buch informiert, ein winziges Teilchen, ein Millionstel der Menschheit stellen. Prozent der Menschen manifestieren ihr geistiges Leben durch Taten, die durchaus meßbar sind. Es wäre ein Fehler, aus Edelmut Psychopathen, Mördern und Kupplern, ebenso wie Wasserträgern, Kaufleuten oder Weberinnen jegliche psychischen Inhalte abzusprechen. Man sollte daher nicht von misanthropischen Intentionen der Autoren reden, sondern höchstens von Beschränkungen ihrer Methode. Die Originalität der »Einen Minute« besteht darin, daß sie keine bilanzierende Statistik, also keine Information über schon stattgefundene Ereignisse ist wie jedes normale statistische Jahrbuch, sondern daß sie mit der menschlichen Welt synchron läuft. Sie ist wie ein Computer jenes Typus, den wir einen in der realen Zeit arbeitenden Computer nennen — eine Einrichtung also, welche die Ereignisse, auf die sie programmiert wurde, synchron mit dem Tempo ihres Ablaufens registriert.
Nachdem der Kritiker des »Encounter« unseren Autoren dergestalt den Lorbeerkranz aufgesetzt hat, begann er an dem Lorbeer zu rupfen, als er sich die Einleitung vornahm. Die Richtlinie der Wahrheitsliebe, auf die sich die Johnsons berufen, um »Eine Minute« vor den Vorwürfen, sie sei drastisch vulgär oder gar eine Schmähschrift, zu schützen, klinge zwar schön, sei aber in der Praxis undurchführbar. Das Buch enthält nicht »alles über den Menschen«, weil das unmöglich ist. Alles über den Menschen enthalten nicht einmal die größten Bibliotheken der Welt. Die Zahl der von der Wissenschaft entdeckten anthropologischen Daten ist so groß, daß sie schon seit langem die Aufnahmefähigkeit eines einzelnen Menschen übersteigt. Die Arbeitsteilung, auch die der geistigen Arbeit, die vor etwa dreißigtausend Jahren in der Altsteinzeit begonnen hat, ist zu einem irreversiblen Phänomen geworden, und dagegen kann man nichts machen. Wir haben wohl oder übel unser Schicksal den Händen der Experten anvertraut. Die Politiker sind ja auch eine Art Experten, nur eben selbsternannte. Doch auch die Tatsache, daß wirklich kompetente Experten Politikern mit mediokrer Intelligenz und miserabler Voraussicht dienen oder gar vor ihnen liebedienern, ist halb so schlimm, weil sich auch die erstklassigen Experten nicht einig sind in bezug auf irgendein wichtiges Problem der Welt. Wir wissen also nicht, ob eine Logokratie der untereinander zerstrittenen Experten besser wäre als die Herrschaft der geistig Minderbemittelten, der wir heute unterworfen sind. Die sich ständig verschlechternde intellektuelle Qualität der führenden politischen Eliten ist eine Folge der wachsenden Komplexität unserer Welt. Weil niemand diese Welt voll erfassen kann, und wenn er noch so weise wäre, drängen sich jene zur Macht, die sich darüber keine Sorgen machen. Es ist kein Zufall, daß in »Einer Minute«, in dem Kapitel über intellektuelle Fähigkeiten, die Intelligenzquotienten hervorragender regierender Staatsmänner nicht angegeben werden. Selbst den allgegenwärtigen Johnsons ist es nicht gelungen, diese Leute entsprechenden Tests zu unterziehen. Meine Ansicht über das Buch ist nicht allzu dramatisch. Man kann darüber auf unendliche Art und Weise räsonieren, davon zeugt die oben vorgestellte Probe. Ich denke, das Buch ist weder eine boshafte Schmähschrift noch die redliche Wahrheit, weder eine Karikatur noch ein Spiegel. Die
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