Eine Minute der Menschheit.
Tatsache, daß sie auf einer Ausstellung gezeigt wurde, sobald sie aber auf einer Müllkippe landet, wird sie niemand mehr mit dem ästhetischen Entzücken anblicken, wie ein Archäologe eine aus dem Schlamm in Griechenland geborgene Vase oder Marmorgöttin anblickt. Man könnte zur Überzeugung gelangen, daß das Hauptanliegen der Autoren von »One Human Minute« nicht so sehr darin lag, uns einen blitzartigen Querschnitt der menschlichen Welt, wie nach einem gigantischen Messerschnitt, zu zeigen, sondern uns mit einer unaufhaltsamen Lawine von Zahlen zu erdrücken, die alle beweisen, wie nahe der Verwirklichung bereits die Anekdote von den Fliegen ist. Jene Anekdote, nach der ein einziges Fliegenpaar, nach einer Saison der ungehemmten Entwicklung, alle Ozeane und Kontinente mit einer kilometerdicken Schicht von Insektenleichen bedeckt. Und so kehrt das Dilemma wieder, an dem sich schon die ersten Kritiker dieses Buches die Zähne ausgebissen haben. Stellt das fürchterliche Übergewicht des Bösen über das Gute, der Schadenfreude an fremdem Mißerfolg über das hilfreiche Wohlwollen, niedriger und dummer Taten über würdige und verständige, tatsächlich die echte Bilanz der menschlichen Welt dar, oder entsteht dieses riesige Übergewicht wenigstens zum Teil nur in den Computern und in den Augen des Statistikers?
Es ist in der Tat leichter, die pro Minute produzierte Tonnage der Sexindustrien, dieses Berges von Genitalinstrumenten, Fotos, spezieller Arten von Kleidern, Fesseln, Peitschen, Geräten, die es erleichtern oder ermöglichen, die uns gegebene Physiologie der Fortpflanzung für perverse Praktiken zu mißbrauchen, anzugeben, als die menschliche Liebe in ihren nicht instrumentalen Erscheinungsformen zu messen, zu wiegen oder auch nur wahrzunehmen. Es ist doch so, daß, wenn Menschen sich lieben — und es ist kaum zu bezweifeln, daß Hunderte Millionen Menschen es tun —, wenn sie ihren erotischen oder elterlichen Gefühlen treu bleiben, es kein Maß, kein Instrument gibt, welches dies registrieren und zu statistischen Daten zermahlen könnte. Beim Sadomasochismus dagegen, bei Vergewaltigung, Mord, bei jeder Perversität stellen sich solche Schwierigkeiten nicht: hier steht uns die Vermessungstheorie zur Verfügung.
Die industrielle Verarbeitung höherer Gefühle in allen ihren Erscheinungsformen, sagen die ob der »Einen Minute« empörten Kritiker und Pamphletisten, ist doch eine glatte Unmöglichkeit. Es gibt keine Apparate, Pferdegeschirre, Salben, Aphrodisiaka oder irgendwelche »Zähler« - und es wird sie nicht geben -, zur Messung der Sohnesoder Mutterliebe, es gibt keine Thermometer, um die Temperatur der Gefühle von Verliebten zu messen, und darüber, daß es zuweilen eine tödlich hohe Temperatur ist, informiert uns indirekt die Statistik der Selbstmorde, die aus unglücklicher Liebe begangen werden. Eine solche Liebe ist in der modernen Welt aus der Mode gekommen, und ein Schriftsteller, der ihr — und nur ihr — seine Werke widmete, würde nicht auf den Parnaß der Literatur gelangen. Die Statistik sagt jedoch — zumindest hier — das ihrige. Man kann solchen Argumenten nicht ihre Berechtigung abstreiten, aber der Haken liegt darin, daß sie Gemeinplätze bleiben, weil sie nicht durch Zahlen gedeckt sind. Den Herausgebern der »One Human Minute« ist es nicht nur nicht gelungen, den Intelligenzquotienten (IQ) der Politiker zu ermitteln, sie waren auch nicht imstande, ein Register der pro Minute in den Akten der katholischen Beichte bekannten Sünden zu erstellen oder ein Verzeichnis der guten Taten, deren Urheber anonym bleiben wollen. So läßt sich denn auch der Streit über den diesem Buch eigenen Grad an Objektivismus oder Subjektivismus nicht definitiv entscheiden.
Dank dem alphabetischen und thematischen Index kann der Leser, der nach der Antwort auf eine bestimmte Frage sucht, leicht die betreffenden Daten finden. Allerdings sind die Schlußfolgerungen, die aus den so zusammengestellten Daten gezogen werden können, alles andere als eindeutig. Fünf Milliarden menschlicher Gehirne verarbeiten schon heute pro Minute weniger Informationen als die in derselben Zeit arbeitenden Computer, was die Lösung von Aufgaben und die Durchführung von Unternehmen erlaubt, die ohne diese Stütze unmöglich gelöst und durchgeführt werden könnten.
Die weltweite Telephonverbindung ist eine ausgezeichnete Sache darüber ist kein Wort zu verlieren. Sie hat aber als — quantitativ durchaus
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