Eine Minute der Menschheit.
wieder drängt sich die Frage auf, ob man solche Daten so trocken und kalt herzeigen sollte, wenn der Leser darauf ohnehin nur mit ohnmächtigem Mitleid, Angst und Niedergeschlagenheit reagiert. Seit Jahren finden wir in schönen, auf Glanzpapier gedruckten Illustrierten der reichen Länder immer wieder großformatige Inserate, die das Foto eines kleinen, meist dunkelhäutigen und dunkelhaarigen Kindes zeigen, und die Gesellschaft oder Vereinigung, die das Inserat veröffentlicht, wendet sich an uns mit der Bitte um Spenden zur Rettung dieser Kinder vor dem Hungertod. Und wieder erfahren wir mit grausamer Genauigkeit der Statistik, daß die Zahl der auf diese Weise geretteten Kinder sich zur Zahl der ihrem Schicksal überlassenen so verhält wie ein Eimer Wasser zum Meer. Man könnte einwenden, daß in den alttestamentarischen Worten Moses: »Wer ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt«, eine große moralische Weisheit steckt. Mag sein — aber Kommentare dieser Art finden wir in »One Human Minute« nicht.
Weil die Statistik mit Durchschnittszahlen operiert und solche manchmal komische Fakten anführt, wie etwa, daß jeder Mann seine Frau 2,67 mal jährlich betrügt, und eine der Eigenschaften, die uns als Gattung von allen anderen Lebewesen unterscheidet, die ungeheure Spanne der Lebensbedingungen ist (Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Daseins, die ebenso unverdient sind wie das Dahinvegetieren im Elend am anderen Ende des Spektrums), will das Buch mittels der sogenannten diagonalen Methode und des Vielfarbendrucks uns eben diese Spannweite des menschlichen Schicksals veranschaulichen. Im Kommentar distanziert sich der Text entschieden von Guinness' Buch der Rekorde, dieses konzentriert sich nämlich auf Absonderlichkeiten des menschlichen Verhaltens, auf die ausgefallensten, zumeist sinnlosen Spitzenleistungen, hier hingegen geht es um die Gegenüberstellungen des Überflusses (des stets wachsenden Reichtums) der Gesellschaften mit dem höchsten Konsum und solchen, die dem Untergang geweiht sind. Hier geht es um viele Tabellen, wie zum Beispiel der in den reichen und den armen Ländern pro Minute und pro Einzelmensch verbrauchten Energie, was besonders kraß im Bild des selbstzerstörerischen Elends in Gebieten zum Ausdruck kommt, wo einfach getrockneter Dung oder Holz, als Brennstoff verwendet, die Energiequelle ist. Über seinen vom Titel aufgezwungenen Rahmen hinausgehend, führt »One Human Minute« auch andere Zahlen an, etwa wann der Baumbestand der armen Länder, der viel schneller abgeholzt wird, als die Natur die dadurch entstandenen Lücken auffüllen kann, sich in leblose Wüste verwandeln wird.
Auch die finanzielle Seite der ökonomischen Erscheinungen wurde in der zweiten Auflage erweitert. Es ist schließlich keine Bagatelle zu erfahren, wieviel die Menschheit für ihre Religionen ausgibt. Dies wird wieder mit boshafter Ironie mit den Rüstungskosten zusammengestellt. Nichtsdestoweniger hat die Behandlung der Kirchensteuer und aller anderen religiös motivierten Geldleistungen als Kapitalanlage pro Minute, deren Zinsen eventuell im Jenseits fällig sind, ihren höhnischen Aspekt. Der Kommentar zu dieser Statistik gibt jedoch vor, nicht im geringsten eine solche Absicht gehabt zu haben, es ginge einzig und allein um die faktischen Unterhaltskosten der religiösen Institutionen, die finanziell meßbar sind ohne Rücksicht darauf, ob es zu irgendwelchen »Rückzahlungen im Jenseits« kommt oder auch nicht. (In diese Kosten wurde auch der Unterhalt aller Klosterund Ordensgemeinschaften, der kirchlichen Missionen sowie der Ausbildung der Geistlichen miteinbezogen.) Mit einem Wort: Es geht darum, wieviel die Menschheit als Ganzes die »Aufrechterhaltung guter Beziehungen mit dem lieben Gott« kostet!
Auch die dem Sexualleben gewidmeten Absätze wurden umgearbeitet und erweitert. In der Einleitung wird dies mit den Veränderungen erklärt, die in diesem Bereich seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe von »One Human Minute« vor sich gegangen sind. Die Sexindustrie hat in diesen paar Jahren ein exponentielles Wachstum erlebt, also sind die einschlägigen dort enthaltenen Zahlen längst nicht mehr aktuell. Hier öffnet sich vor uns ein wahres Panoptikum voller erstaunlicher Beschreibungen und Zahlen. Beschreibungen, denn für jemand, der sich in der Differenziertheit dieses Produktionszweiges der Konsumindustrie nicht genug auskennt, würden die Namen allein unverständlich bleiben.
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