Eine Minute der Menschheit.
Einer, der sich über die Bewegung der »women's liberation« lustig macht, bemerkte vor kurzem, daß die Frauen hinsichtich der »Liebesprothetik« benachteiligt seien, weil die sex industry fast ausschließlich künstliche Damen herstellt, und zwar mit bereits eingebauten Tonbandgeräten, damit sich diese Damen, je nach dem Tonband, verführerisch oder auch obszön ausdrücken können, männliche Puppen hingegen gab es im Verkauf fast gar nicht. Jetzt hat sich die Lage soweit gebessert, daß die vollkommene Gleichheit, wie sie die Emanzipationsbewegung der Frauen fordert, auf diesem Gebiet fast schon erreicht ist. Die Aktivität der Puppen beider Geschlechter, mit Strom angetrieben - nicht unbedingt aus der Steckdose, jemand könnte ja Verlangen nach einem amourösen Abenteuer mit Akkumulatorantrieb haben —, also die Leistungsfähigkeit der männlichen und weiblichen Ausgestopften oder Aufgeblasenen hat schon ein solches Niveau erreicht, daß sie sich eigentlich zu Paaren verbinden und überhaupt ohne lebendige Partner auskommen können. Das sind natürlich Bosheiten. Aber der Hunger nach sexuellen Erlebnissen scheint in den reichen Ländern des »permissiven« Typus wirklich unersättlich zu sein. Zeigt es sich doch, daß dort für Wäsche, Kleider, Toiletten, Perücken und Parfüms der künstlichen Gespielen und Gespielinnen mehr ausgegeben wird als für die ganze unentbehrliche Bekleidung der Bevölkerung in manchen ärmeren Ländern der Dritten Welt.
Die Daten, die selbst in einer relativ genauen statistischen Annäherung nicht eruiert werden konnten, wie etwa die Zahl der pro Minute vergewaltigten Frauen, werden mit dem loyalen Vorbehalt dieser Unsicherheit präsentiert — aufgrund sogenannter »Dunkelziffern«, also Vermutungen, da, wie Kenner dieses düsteren Phänomens behaupten, die Mehrheit der Vergewaltigten es vorziehen, die ihnen angetane Schande zu verschweigen. Weil dagegen heute sich niemand mehr des Homosexualismus beiderlei Geschlechts zu schämen braucht oder ihn verbergen muß, werden die in die Millionen gehenden Zahlen der Homosexuellen in »One Human Minute« sehr exakt angegeben. Blättern wir in diesem dicken Band, noch dicker als die erste Auflage, stoßen wir von Zeit zu Zeit auf Daten, die uns zu Bewußtsein bringen, daß wir in der Epoche einer solchen Blüte der Kunst leben, die schon kaum von ihrem Untergang zu unterscheiden ist. Es geht darum, daß die Maßstäbe und Grenzen, die ein Kunstwerk von etwas trennen, das kein Kunstwerk mehr sein kann, sich völlig verwischt und verflüchtigt haben. Einerseits werden also in der Welt mehr Kunstgegenstände produziert als alle Autos, Flugzeuge und alle anderen Fahrzeuge, einschließlich der Traktoren, Lokomotiven, Schiffe usw. zusammengenommen. Andererseits löst sich jedoch gleichsam diese Unmenge in der Masse der Dinge auf, die überhaupt zu nichts nutze sind.
Ich muß zugeben, daß diese Zahlen in mir ziemlich düstere Reflexionen geweckt haben. Zum einen wurde die Welt der schönen Künste endgültig zerschlagen, und kein Kunstliebhaber ist mehr imstande, sie zu überschauen, selbst wenn er sich zum Beispiel nur für Graphik, Malerei oder Skulptur interessiert. Es könnte der Eindruck entstehen, daß die technischen Kommunikationsmittel gerade dazu so außerordentlich vervollkommnet wurden, um uns die mikroskopisch kleine Aufnahmefähigkeit des armseligen menschlichen Gehirns zu Bewußtsein zu bringen: Was haben wir davon, daß uns potentiell alles Schöne zur Verfügung steht und daß wir das alles persönlich auf den Bildschirm unseres Heimcomputers abrufen können, wenn wir uns nun wieder in der Lage des Kindes befinden, das mit einem Löffel am Ufer des Ozeans steht? Ferner -und das erschien mir schon besonders grauenhaft, als ich auf die Tabellen blickte, auf denen zusammengestellt war, wieviele welcher verschiedener Kunstwerke (und woraus) in einer Minute hergestellt werden -verblüffte mich die absolut nichtssagende Qualität dieser Kunstwerke. Wenn einmal in der fernen Zukunft irgendwelche Archäologen Ausgrabungen machen werden, um zu erfahren, welche Kunst unsere Epoche hervorgebracht hat — sagen wir, in der Plastik —, werden sie nichts erfahren. Sie werden nicht imstande sein, gewöhnlichen Müll und Abfall von unseren »Kunstwerken« zu unterscheiden, weil es zwischen dem einen und dem anderen häufig keinen Unterschied gibt. Daß eine Tomatensuppendose der Marke »Campbell« ein Kunstwerk ist, folgt nur aus der
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