Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
ob er die neue sogenannte sexuelle Freiheit als Modeerscheinung betrachte. »Ich betrachte das zwanzigste Jahrhundert als Modeerscheinung«, sagte er. Aber da war sein Zahn, der einem zublinkte. Er sagte nie die Wahrheit! Bevor Edith zu Bett ging, durchwühlte sie alle ihre Kleider und versuchte zu entscheiden, was sie ins Belvedere anziehen sollte. Dann wurde sie auch deswegen über sich ärgerlich; sie war wegen dem, was sie anhatte, nie befangen gewesen. Im Bett sah sie zu, wie die Lichter der Stadt sich durch die hohen Fenster und die schweren, cremefarbenen Vorhänge kämpften. Warum trage ich so oft Schwarz? grübelte sie. Ehe sie einschlief, wünschte sie, daß Severin Winter dieses gräßliche BuchstabenJackett nicht ins Belvedere anziehen würde.
    Ich habe dieses Buchstaben-Jackett nur einmal gesehen. Als Utsch und ich ihn kennenlernten, war er ihm entwachsen - körperlich, meine ich. Ich nahm an, daß es ausgemustert oder weggepackt worden sei. Dann saßen Utsch und ich eines Tages auf der Treppe unseres Hauses, als Edith allein den Bürgersteig entlangkam und sich zwischen uns setzte. Severin rege sich wegen »der ganzen Sache« auf, sagte sie uns. Utsch und ich hatten gerade darüber geredet. Das war damals, als Edith mir gegenüber bereits ihre Ängste geäußert hatte, daß sie bezweifle, ob »die ganze Sache« funktionieren könne. Wir alle wußten, daß Severin unglücklich war, aber unsere Beziehung war noch sehr neu, und Severin hatte nie deutlich gemacht, worüber er unglücklich war. »Ich dachte, wir alle sollten miteinander reden«, sagte uns Edith. »Ich meine, wir vier - gemeinsam.« Wir saßen auf der Treppe und warteten auf Severin. Er fuhr seine Töchter zum Spielen zu irgendeinem Freund. Unsere Kinder waren außer Hause. Es war Frühling, und in den warmen Sonnenstunden war es gerade möglich, auf der Treppe zu sitzen.
    »Möchte Severin reden?« fragte Utsch Edith. »Ich meine, alle gemeinsam.«
    »Na ja, ich dachte, wir sollten«, sagte Edith. Wir saßen da.
    Severin parkte sein Auto vor uns, dann blieb er darin sitzen, nachdem er den Motor abgestellt hatte, und schaute uns drei zusammen auf der Treppe an. Er grinste. Ich bemerkte, daß ich Utsch und Edith bei der Hand hielt. Er saß in seinem Auto wie eine lächelnde Kamera, und als er ausstieg und auf uns zuging, spürte ich Ediths Griff in meiner Hand verkrampfen. Dann sah ich, daß er dieses gottverdammte BuchstabenJackett trug. Die Ärmel endeten in der Mitte seiner Unterarme, und die Taille des Jacketts reichte kaum bis unter seine Brust. Das T-Shirt und die Jeans und Turnschuhe waren vertraut, fast eine Uniform, aber obwohl ich es nie gesehen hatte, wußte ich über dieses Jackett Bescheid. Sogar das Mistwetter an diesem Tag muß so gewesen sein wie damals in Wien!
    Er kam gar nicht bis zur Treppe. Edith sprang auf und rannte zu ihm, während er noch auf dem Bürgersteig war. »Wo hast du das gefunden?« rief sie; sie packte ihn an dem Jackett. Sie hatte das Gesicht ihm zu- und von uns abgewandt, so daß wir nicht sehen konnten, ob sie wütend war oder sich freute. Sie schüttelte das Jackett, dann umarmte sie ihn. Es war nicht wahrnehmbar, aber ich glaube, er lotste sie zum Auto - oder vielleicht wandte sie sich selbst zum Auto, und er stützte sie einfach. Sie saß in strengem Profil auf dem Beifahrersitz, und so konnte ich ihr Gesicht nicht deuten. Severin hüpfte auf den Fahrersitz und winkte uns hastig zu; ich glaube nicht, daß er uns überhaupt ansah. »Später!« rief er. Edith rührte sich kein bißchen, als er wegfuhr.
    »Severin räumt nicht so ohne weiteres den Fahrersitz«, sagte mir Edith später.
    »Was meinst du dazu?« fragte ich.
    Und Edith sagte: »Ich hatte immer das Gefühl, von Anfang an, daß er ein ziemlich guter Fahrer ist.«
    Da er fest an die Vergangenheit glaubte, grub Severin Winter sein altes Buchstaben-Jackett aus und stahl uns die Szene, bevor wir sie haben konnten.

3.
Kundschafterberichte: Utsch
(Klasse bis 61 Kilo)
    Am 9. Juli 1945 teilten die Alliierten die Stadt Wien in Besatzungszonen auf. Die Amerikaner und Briten schnappten sich die besten Wohnviertel, die Franzosen übernahmen die Märkte und die wichtigsten Einkaufsgegenden, und die Russen (die langfristige, realistische Pläne hatten) ließen sich in den Arbeiter- und Industrievierteln und in der Innenstadt, den Botschaften und Regierungsgebäuden am nächsten, nieder. Beim Zerlegen des großen Jagdvogels verrieten die Essensgäste ihren

Weitere Kostenlose Bücher