Eine Mittelgewichts-Ehe
Geschmack.
Jeder weiß, daß die Sowjets in Wien nicht ganz das zustande brachten, was sie in Berlin zustande gebracht hatten; vielleicht nicht jeder weiß, welche Mühe sie sich gaben. Sechzehn von einundzwanzig Bezirken hatten kommunistische Polizeichefs, eine Art russische Magie. Während der zehnjährigen Besatzungszeit endete nicht weniger als ein Drittel der Anti-Sowjets in Wien als vermißt; vielleicht begriffen sie nie, wessen Besatzungszone wessen war, und gingen verloren. Wie auch immer, Kanzler Figl sah sich veranlaßt, zuzugeben: »Wir haben unter eine sehr lange Liste von Namen einfach das Wort ›verschwunden‹ schreiben müssen.« Mehr Magie.
Sofern man nicht Kommunist war oder einem Vergewaltigungen und Maschinengewehrfeuer nichts ausmachten, suchte man sich zum Wohnen nicht die sowjetische Besatzungszone aus. Utsch konnte es sich natürlich nicht aussuchen. Erst sieben Jahre alt, hatte sie guten Grund, Kommunistin zu sein; wenn auch ihr Vormund Hauptmann Kudaschwili für viele der guten Frauen von Eichbüchl kein Held war, so war er zumindest ihr Retter. Wenn auch nicht ihr Vater, war er zumindest die verfügbare Hebamme, die sie aus der Kuh entbunden hatte, wo sie so sicher aufgehoben war.
Hauptmann Kudaschwili zog natürlich in einen Bezirk in der russischen Zone, den Vierten. Zum Glück für Utsch war er Idealist. Er hatte noch nie ein Nachkriegs-Waisenhaus gesehen. Der Tag, an dem Hauptmann Kudaschwili die Argentinierstraße hinaufging (das Waisenhaus lag in der Nähe des Südbahnhofs), war der erste Tag, an dem sie sich ihrer Erinnerung nach außerhalb einer Kaserne oder eines Stalls aufhielt. Ich stelle mir vor, daß es, wenn man zwei Tage in einer Kuh verbracht hat, erhebend ist, draußen zu sein, egal wo. Und die Gebäude in der Argentinierstraße waren so dekorativ, daß sie sie an die gestohlenen Bücher ihrer Mutter erinnerten.
Utschs Geburtsurkunde war an ihrem Mantelaufschlag festgesteckt. Kudaschwili hatte ihr den Schal eines toten Soldaten gegeben; er schlang sich viermal um ihren Hals und schleifte trotzdem noch auf dem Bürgersteig. Als sie beim Waisenhaus ankamen, wußte Utsch irgendwie, daß sie hierhergebracht worden war, um zu bleiben. Kudaschwili hatte es ihr natürlich gesagt, aber sie verstand noch kein Russisch.
In dem Gebäude fand eine Demonstration der Generationskluft statt - die Kluft war dabei die Generation, die fehlte. Da gab es in Hülle und Fülle Großeltern, die Kinder weggaben; es war die Elterngeneration, die den Krieg verloren hatte (und in ihm verlorengegangen war). Utsch weiß noch, daß Kudaschwili dort der einzige Angehörige seiner Generation war; alles starrte ihn an. Eine alte Frau kam auf ihn zu und spuckte ihm auf die Brust, aber das lag an seiner russischen Uniform. Eine Großmutter versuchte sich von fünf oder sechs Kindern loszumachen. Ein Angestellter des Waisenhauses bändigte ein Kind, und ein anderer Angestellter wurde mit zweien fertig, aber es gab immer zwei oder drei, von denen die Großmutter nicht loskam. Immer wenn sie gerade bis zur Tür gekommen war, erreichte sie eins von ihnen und klammerte sich an. Alle ihre Enkelkinder schrien, aber nicht die schreienden beeindruckten Utsch, sondern die Kinder, die bereits zurückgelassen worden waren. Sie weinten nicht; sie rührten sich nicht einmal. Sie waren stumme Voyeure, und Utsch folgerte irgendwie, daß sie nie wieder irgendeinen Ausdruck auf ihren Gesichtern haben würden.
Kudaschwili versuchte etwas zu unterschreiben, aber Utsch grapschte seine Schreibhand. Sie wollte nicht loslassen, sie biß ihn, und sie versuchte, ihn in den Schal zu wickeln, den er ihr gegeben hatte. Kudaschwili protestierte nicht; es ist möglich, daß er sein Herz ohnehin nie an den Gedanken eines Waisenhauses gehängt hatte. Er hob sie hoch und trug sie hinaus. Bis auf den heutigen Tag behauptet sie, sie habe allen »Auf Wiedersehen« zugerufen.
Während sie die Argentinierstraße hinunter in den Vierten Bezirk zurückgingen, machte Kudaschwili Utschs Geburtsurkunde von ihrem Mantelaufschlag los und steckte sie in seine Ledermappe zu seinen eigenen Papieren. Auf seiner Brust, unter seinen Orden, glänzte der Speichel der alten Frau wie ein Klümpchen kaltes Hühnerfett. Kudaschwili säuberte sich mit einem Taschentuch. Er machte einen seiner Orden los und heftete ihn an Utschs Mantelaufschlag. Sie hat ihn bis auf den heutigen Tag: eine Tapferkeitsmedaille, die - jedenfalls soweit ich in Erfahrung bringen
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