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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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losmachen, um an den Knöpfen herumzuspielen, und als sie ihn wieder anlegen wollte, sagte Severin etwas auf deutsch zu ihr. Sie antwortete, und er stritt mit ihr; sie ließ ihren Gurt auf, und er machte seinen auch auf. Edith drückte meine Hand; sie war starr. Severin sagte wieder etwas zu Utsch. »Nein«, sagte sie.
    Wir fuhren schneller. Ich schaute zwischen ihren Schultern hindurch auf die länger werdende Zunge auf dem Tachometer. Als er die Armaturenbeleuchtung abblendete, spürte ich Edith sich an mir straffen und hörte Utsch ruhig etwas auf deutsch sagen. Ich mußte plötzlich an Severins psychologische Trainingsmethode denken, an seinen Tunnelgang in der selbstauferlegten Dunkelheit. Ich spürte, daß wir uns mit großer Geschwindigkeit bewegten und jeden Moment ins grelle Licht der Öffentlichkeit und ins Gebrüll einer Menge hineinplatzen würden. Utsch wiederholte, was immer sie auf deutsch gesagt hatte. Ich spürte, daß Edith drauf und dran war, nach vorn zu langen - und was zu tun? Ihm auf die Schulter klopfen, ihm einen Kuß in den Nacken geben, Utsch anschnallen?
    Als Severin Winter wieder sprach, sagte Utsch diesmal nicht »Nein«. Sie legte sich quer über die Vordersitze und bettete den Kopf in seinen Schoß. Ich sah ihren weichen, grünen Pullover an dem Zwischenraum zwischen den Sitzen vorbeifließen wie Wasser. Das Armaturenbrett war nicht auszumachen. Die Geschwindigkeit kam einem genauso vor. Edith rückte von mir ab, fand ihren Sicherheitsgurt und zurrte ihn um ihre Hüften fest; das metallische Einrasten wirkte übertrieben. Hatte Utsch ihn im Mund? Ausgeschlossen! Nicht, wo Edith und ich direkt dabeisaßen. Aber wollte Severin, daß wir das dachten?
    Ich konnte das nicht weitergehen lassen. Aber ich weiß, was Unaufrichtigkeit wert ist. Ich sagte: »Was meinst du, wie geht's den Kindern?« Edith lächelte; ich wußte, ich hatte ihn. »Stört es dich, sie über Nacht allein zu lassen, so weit weg von ihnen zu sein? Es wird einfacher, je älter sie werden, aber machst du dir nicht trotzdem Sorgen?« Die Fragen waren für Severin; Edith gab mir natürlich keine Antwort. Utsch glitt auf ihren Sitz zurück und setzte sich auf. (Später sagte sie: »Ich hätte gleich nach dem Aufsetzen das Fenster runterdrehen und ausspucken sollen. Das hätte dich geschafft. Das war's doch, was dir im Kopf rumspukte, oder? Wenn du das gedacht hast, hätte ich's dich wirklich denken lassen sollen.«
    Ich brüllte: »Warum hat er dich dann gebeten, es zu tun?«
    »Er hat mich bloß gebeten, den Kopf in seinen Schoß zu legen.«
    »Was wollte er denn, daß wir denken?«
    »Denk, was du denken willst«, sagte sie.
    Lieber Himmel! Es geschieht ihm recht - die Art, wie er Edith so oft die Kinder vorwarf, als seien sie Heiligtümer, die sie nicht angemessen verehrte. Seine Vorstellung von Liebe war immer mit seiner Vorstellung von Schuld verstrickt.
    Im Auto sagte er steinern: »Ich meine, daß es den Kindern gutgeht. Aber natürlich mache ich mir Sorgen um sie, ich mache mir immer Sorgen um sie.« Das Armaturenbrett leuchtete wieder; die rote Zunge des Tachometers schrumpfte.
    »Ich hab bloß gefragt, weil ich weiß, daß du zuerst nicht in dieses Wochenende fahren wolltest - du wolltest die Kinder nicht allein lassen«, sagte ich. »Und ich hab mich gefragt, vorausgesetzt, sie sind okay - und ich bin sicher, das sind sie -, ob es dir jetzt leichterfiele, so was öfter zu machen. Ich meine, ich find's gut, mal wegzukommen. Es war doch ein tolles Wochenende, meinst du nicht?« Edith und Utsch sagten kein Wort, und Severin muß sich bereits über die neuen Gesetze im klaren gewesen sein - beziehungsweise seine neue Auslegung derselben alten Gesetze, die er Edith gegenüber aufstellen würde, sobald sie allein waren. Er muß es bereits geprobt haben. Daß er nicht wolle, daß sie Zeit mit mir verbringe, sofern er nicht gleichzeitig mit Utsch genausoviel Zeit verbringe. Und daß wir uns stets im voraus absprechen würden - damit er darauf »vorbereitet« sei (er mochte keine Überraschungen). Und daß das Getrenntsein von den Kindern über einen so langen Zeitraum keine Erfahrung sei, die zu wiederholen er Lust habe. Ohne die Kinder fehle uns eine gewisse Perspektive, wie er es auszudrücken beliebte. Aber worum hatte er Angst? Ja, ich weiß: um die Kinder. Aber worum noch?
    Er fuhr Edith in einem 1954er Zorn-Witwer von Wien nach Griechenland, wobei sie die jugoslawische Grenze bei Jezersko überquerten, weil, so sagte

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