Eine Mittelgewichts-Ehe
sagte ihm, nein, sie sei zum erstenmal da. Ach, das habe er mißverstanden, sagte er. Als er ging, fragte Utsch die Dame, die das Gasthaus betrieb, wie er seine Beine verloren hatte. Der Krieg; das war alles, was die alte Dame sagen wollte. Die Russen? fragte Utsch. Die alte Dame räumte ein, daß es an der russischen Front gewesen sein könnte; die Gegend war allgemein dafür bekannt gewesen, daß man da seine Gliedmaßen verlor.
Aber als wir aus dem Gasthof heraustraten, kam einer der alten Kartenspieler zu uns. »Hören Sie nicht auf sie«, sagte er Utsch. »Er hat seine Beine direkt hier im Dorf verloren. Die Russen waren es. Sie haben ihn gefoltert, weil er ihnen nicht sagen wollte, wo seine Frau und seine Töchter versteckt waren. Sie haben es bei ihm mit einer Mostpresse gemacht. Er hat es ihnen nicht gesagt, aber sie haben sie natürlich trotzdem gefunden.«
Warum ein so alter Mann Fremden eine solche Geschichte erzählen sollte, geht über meinen Horizont, aber Utsch behauptet, sie habe den Dialekt richtig übersetzt. Wir fuhren aus Eichbüchl hinaus, bevor es dunkel war, und Utsch weinte leise auf dem Sitz neben mir. Ich hielt beim Fluß an, bloß um sie festzuhalten und zu versuchen, sie zu trösten. Der Fluß hieß Leitha, ein klares, seichtes Gewässer mit Kiesgrund - sehr schön. Utsch weinte eine Weile, bis wir mit einemmal ausgerechnet eine Kuh anglotzten. Sie hatte sich von der Herde unten am Fluß weggetrollt und bis zum Straßenrand hinaufgegrast. Sie betrachtete uns neugierig. »O mein Gott«, schluchzte Utsch.
»Ist schon gut«, sagte ich. »Es ist bloß eine Kuh.«
Die Kuh glotzte uns sanft und blöde an; für Kühe nimmt sich alle Geschichte so ziemlich gleich aus.
Schließlich lachte Utsch laut heraus - ich nehme an, weil sie mußte. »Auf Wiedersehen, Mutter«, sagte sie zu der Kuh. Dann fuhr ich uns über die Holzplankenbrücke über die Leitha, wo alle anderen Kühe zu uns aufblickten, als wir die Brücke zum Rattern brachten. »Auf Wiedersehen, Mutter!« schrie Utsch, während ich beschleunigte. November war überall. Die Weinberge waren abgepflückt; das Wurzelgemüse war in den Kellern aufgeschichtet; der Most war sicher schon gepreßt.
Utsch weinte fast die ganze Nacht in ihrem Zimmer voller Pflanzen im Studentenheim, und ich schlief mit ihr, wann immer sie das wollte. Ein paar Stunden lang war sie nicht im Zimmer, und eine Weile dachte ich, sie nähme hinten im Gang ein heißes Bad. Aber als sie um die Morgendämmerung zurückkam, sagte sie mir, sie habe sich von Heinrich und Willi verabschiedet.
Nun ja, Abschiede lagen eindeutig in der Luft; wir reisten am nächsten Tag ab.
Im Herrenzimmer verabschiedete ich mich von Willi und Heinrich. Sie waren höflich, ruhig, nicht zu Bosheiten aufgelegt. Ich sagte, es tue mir leid, was mit ihrer Rasierschaumdose passiert sei, aber sie weigerten sich, Entschuldigungen irgendwelcher Art zu akzeptieren. »Du hast einen guten Bart wachsen«, sagte mir Willi. »Warum willst du dich rasieren?«
Dann waren wir im Taxi, unterwegs zum Flughafen Schwechat. Ein kalter, grauer Tag zum Fliegen, schlechte Sicht. Auf dem Flughafen kaufte ich mir eine ›International Herald Tribune‹, aber sie war einen Tag alt. Es war der 22. November 1963. Wir warteten auf ein Abendflugzeug. Der Lautsprecher auf dem Flughafen machte Durchsagen auf deutsch, französisch, italienisch, russisch und englisch, aber ich hörte nicht hin. In der Flughafenbar erkannte ich eine Menge anderer Amerikaner. Viele von ihnen weinten. Ich hatte die letzten beiden Tage seltsame Dinge gesehen, und ich hatte keinen Grund zu erwarten, daß die seltsamen Dinge aufhören würden. Wie alle anderen sah ich fern. Es war die Überspielung eines Videobandes. Der Empfang war miserabel, der Kommentar auf deutsch. Ich sah ein großes amerikanisches Cabriolet mit einer Frau, die vom Rücksitz nach hinten auf den Kofferraum kletterte, um einem Mann zu helfen, auf die hintere Stoßstange aufzuspringen und ins Auto zu klettern. Es ergab nicht viel Sinn.
»Wo ist Dallas?« fragte mich Utsch.
»Texas«, sagte ich. »Was ist in Dallas passiert?«
»Der Präsident ist tot«, sagte Utsch.
»Was für ein Präsident?« fragte ich. Ich dachte, sie meinte den Präsidenten von Dallas.
»Euer Präsident«, sagte Utsch. »Du weißt doch, Herr Kennedy?«
»John Kennedy?«
»Ja, der«, sagte Utsch. »Herr Kennedy ist tot. Er ist erschossen worden.«
»In Dallas?« fragte ich. Irgendwie konnte ich es nicht
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