Eine Mittelgewichts-Ehe
glauben, daß mein Präsident je auch nur nach Dallas fahren würde. Ich starrte Utsch an, die nicht einmal mit Kennedys Namen vertraut war. Was muß sie von diesem Land halten, in das sie da fährt? fragte ich mich. In Europa bringen sie ihre Aristokratie natürlich andauernd um, aber nicht in Amerika.
Vor mir plärrte eine große, bepelzte Frau in einem fort. Sie sagte, sie sei Republikanerin aus Colorado, aber sie habe Kennedy trotzdem immer gemocht. Ich fragte ihren Mann, wer es getan habe, und er sagte, es sei wahrscheinlich irgendein mieser, kleiner Scheißkerl, der keinen anständigen Job habe. Ich sah, daß Utsch bestürzt war, und versuchte, ihr zu sagen, wie außergewöhnlich das sei, aber sie schien mehr um mich besorgt.
Als wir später in dieser Nacht in Frankfurt in ein anderes Flugzeug umstiegen, erfuhren wir, daß der, von dem sie glaubten, er habe Kennedy erschossen, gerade selbst von jemand anderem erschossen worden war - auf einem Polizeirevier! Auch das sahen wir im Fernsehen. Utsch zuckte nicht mit der Wimper, aber die meisten Amerikaner weinten weiter, erschüttert und verängstigt. Für Utsch, nehme ich an, war es überhaupt nicht ungewöhnlich; es war die Art, wie man in Eichbüchl Rechnungen begleichen würde. Niemand hatte sie gelehrt zu erwarten, daß sich irgendein anderer Teil der Welt anders verhielt.
Als wir in New York landeten, hatte bereits irgendeine Zeitschrift das Bild von Mrs. Kennedy gedruckt, das monatelang in Umlauf sein sollte. Es war ein großes Farbfoto - es war besser in Farbe, weil das Blut wirklich wie Blut aussah; es zeigte sie verstört und bekümmert und gleichgültig gegen ihr Aussehen. Sie war immer so um ihr Äußeres besorgt gewesen, daß ich glaube, das Publikum sah sie gern so. Es war fast so, als sähe man sie nackt; wir waren Voyeure. Sie trug dieses blutbespritzte Kostüm; ihre Strümpfe waren vom Blut des Präsidenten bekrustet; ihr Gesicht war leer. Utsch fand das Foto widerwärtig; es machte sie den ganzen Weg nach Boston über weinen. Die Leute um uns dachten wahrscheinlich, sie weinte um Kennedy und um das Land, aber das war es nicht; sie reagierte auf das Gesicht auf dem Foto, diesen Kummer, diesen Blick des derart totalen Geschlagenseins, daß einem alles gleich ist. Ich glaube, daß Utsch um Kudaschwili und um ihre Mutter und um dieses schreckliche Dorf weinte, aus dem sie kam und das genau wie jedes andere Dorf war. Ich glaube, sie fühlte mit der Leere im Gesicht der Präsidentenwitwe.
Wir nahmen die U-Bahn nach Cambridge. »Es ist wie eine Art unterirdische Straßenbahn«, erklärte ich, aber Utsch interessierte sich nicht für die U-Bahn. Sie saß angespannt da, das zerknitterte Bild von Mrs. Kennedy auf dem Schoß. Die Zeitschrift hatte sie weggeworfen.
Auf dem Harvard Square gingen wir an vielen, die um Kennedy trauerten, vorbei. Utsch starrte alles an, aber sie sah nichts. Ich sprach von meiner Mutter und meinem Vater. Wenn die Koffer nicht so schwer gewesen wären, wären wir den langen Weg nach Hause in die Brown Street zu Fuß gegangen; so nahmen wir ein Taxi. Ich redete und redete, aber Utsch sagte: »Du solltest keine Witze über deine Mutter machen.«
Mutter stand an der Tür, dasselbe verdammte Bild von Mrs. Kennedy in der Hand wie Utsch. Es mag eine dieser falschen Verschwisterungen gewesen sein, bei denen man sich mit einem anderen Menschen identifiziert; das funktioniert ausgezeichnet, weil man nie herausfindet, daß man unter dem, was einen verband, gänzlich Verschiedenes verstanden hat.
»Ach, du hast es also wirklich getan!« rief meine Mutter mir zu und breitete für Utsch die Arme aus.
Utsch rannte geradewegs zu ihr und weinte an ihrer Brust. Meine Mutter war überrascht; es war Jahre her, daß jemand sie derart vollgeweint hatte. »Geh zu deinem Vater«, sagte mir Mutter. Utschs Weinen schien man nicht besänftigen zu können. »Wie heißt sie?« flüsterte Mutter, Utsch in den Armen wiegend.
»Utschka«, sagte ich.
»Ach, das ist ein hübscher Name«, flötete meine Mutter, die Augen verdrehend. »Utschka?« sagte sie, als tröste sie ein Baby. »Utschka, Utschka.«
Ich sah meine Frau stundenlang nicht wieder; meine Mutter hielt sie vor meinem Vater und mir versteckt. Gelegentlich tauchte sie auf und gab Aussprüche von sich, wie etwa: »Wenn ich daran denke, was mit der Mutter dieses armen Kindes passiert ist ...«, oder: »Sie ist eine bemerkenswerte junge Frau, und ich weiß gar nicht, womit du sie verdient
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