Eine Nacht in Bari
überall wahrnehmen konnte. Dieser Traum von Wohlstand, Moderne, von
überschaubarer, freundlich gesinnter Zukunft, den ich schon als Kind mit der Idee von Amerika verbunden hatte und den ich in diesen breiten, hellen Straßen verwirklicht sah.
Mit Chicago (übrigens genau wie mit New York und anderen amerikanischen Städten, die ich aus so vielen Filmen kannte) hatte ich auf Anhieb eine seltsame Vertrautheit verspürt. Hatte mich zu Hause, mich wohl gefühlt. Paradoxerweise fühlte ich mich hier viel weniger fremd als dort, wo ich wirklich zu Hause war.
Ich fand es unheimlich, dass jemand, mit dem ich einen Teil meines Lebens verbracht hatte, jetzt dort lebte. Es war, als hätte er damit die Trennwand zwischen dem realen (banalen) Leben und der Fantasiewelt durchschritten und wäre eine Filmfigur geworden.
Paolo war wie ich an der Grenze zwischen den Stadtteilen San Nicola, Murat und Libertà aufgewachsen. Er war in demselben leicht beklemmenden Rhythmus unserer engen, ja, klaustrophobischen Lebensumstände aufgewachsen und hatte sich schließlich mit einem Ruck daraus befreit, dachte ich. Auf einem sehr langen, sorgsam gewählten Fluchtweg, der ihn durch Europa, Ozeanien und Amerika geführt hatte.
Jetzt war er also amerikanischer Staatsbürger und lebte in Evanston, Illinois, in einem Haus mit Rasen, Swimmingpool und Grill. Er besaß einen dieser langen, unpraktischen Wagen, seine Frau hieß Meg oder Sharon oder Susan (in Wirklichkeit hatte er uns gar nicht gesagt, wie seine Frau hieß), und seine Kinder aßen zum Frühstück Cornflakes und zum Abendessen Hamburger mit
Kartoffelpüree, und selbst wenn sie Italienisch gelernt hatten, würden sie es bald vergessen haben.
Plötzlich packte mich eine fieberhafte Neugier auf sein Leben.
»Wie lebt es sich denn als Professor an einer amerikanischen Uni?«
»Wie stellst du es dir denn vor?«
»Ich weiß nicht, vielleicht habe ich eine romantische Vorstellung davon, wie im Film …«
»Tja, das wundert mich nicht«, sagte er trocken und ich glaubte, eine sarkastische Note herauszuhören.
»Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Es ist ein sehr geregeltes Leben. Man könnte es sogar als monoton bezeichnen. An der Uni haben wir sehr viel mehr didaktische Aufgaben als an italienischen Unis, aber das weißt du vermutlich. Die meiste Zeit geht drauf mit Vorlesungen, Korrekturen von Papers , Sprechstunden für die Studenten, Verwaltungstätigkeiten. Und dazu natürlich noch die Forschungsarbeit.«
Giampieros Stimme bohrte sich in meine Gedanken. Er redete mit mir.
»Wisst ihr, wenn damals jemand gewettet hätte, wer von uns weggeht, dann hätte er bestimmt auf dich gesetzt. Und jetzt seht nur, was aus unseren Prognosen geworden ist.«
Genau.
Ich zuckte gleichgültig die Achseln. In Wirklichkeit war es mir aber gar nicht egal – im Gegenteil, dieses Thema war mir unangenehm. Deshalb bat ich Paolo schnell, uns mehr von seinem Leben in Amerika zu erzählen.
»Es ist natürlich nicht alles fantastisch dort«, sagte Paolo, immer noch etwas zögerlich. »Alles funktioniert, und man hat den Eindruck, nützlich zu sein und für seine Leistung Anerkennung zu bekommen. Aber irgendetwas fehlt. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind anders in Amerika. Der Wettbewerb ist brutal, und alles ist grundsätzlich und prinzipiell prekär. Du lernst Leute kennen, freundest dich mit ihnen an und gehst davon aus, dass ihr euch regelmäßig sehen werdet, und dann ziehen sie auf einmal fünftausend Kilometer weit weg und ihr trefft euch womöglich nie wieder. Das kann auch innerhalb der eigenen Familie passieren. Es ist ganz normal, dass ein Sohn seine Eltern über ein Jahr lang nicht mehr sieht, weil sie zum Beispiel in Philadelphia wohnen und er in Seattle.«
Giampiero wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück, als hätte ihn eine plötzliche Eingebung davon abgehalten: besser nicht, sei lieber still. Aus seinem Gesichtsausdruck zu schließen, hatte er dasselbe sagen wollen, was ich gedacht hatte: Dass das jedem passieren würde, der achttausend Kilometer weit wegzieht und sich von seiner Mutter, seiner Freundin und seiner Schwester verabschiedet. Von seinen Freunden.
Dieser Gedanke hing im Raum, und ich bin sicher, dass Paolo das auch spürte.
Ich spielte mit einem Rest Kuchen, der auf dem Teller liegen geblieben war. Giampiero überprüfte, ob sein Glas wirklich leer war. Paolo schob seinen Stuhl zurück.
»Ich finde, jetzt könnten wir einen schönen Spaziergang
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