Eine Nacht in Bari
denen Palmen wachsen. Das ist etwas sehr Mediterranes, es gefällt mir. Dieses unbekannte, freundliche Gefühl vermittelte mir Sicherheit. Es war wie nach Hause kommen.
Mittlerweile war es nach elf, und der Corso hatte sich gefüllt wie fast jeden Abend. Paolo sah sich verwundert
um. Sein Gesicht hatte den leicht ungeduldigen Ausdruck verloren, den er den ganzen Abend zu verbergen versucht hatte, der jedoch unweigerlich immer wieder zum Vorschein kam. Jetzt wirkte er weniger angespannt und beherrscht, sondern eher neugierig. Die Stadt, in der er aufgewachsen war, war damals, an einem x-beliebigen Wochentag, und zu dieser Nachtstunde menschenleer gewesen. Jetzt hingegen war sie voller Leute, die unter den Wärmepilzen der Straßencafés oder auf den Bänken in der Nähe der mehr oder weniger schicken Bars saßen.
Wir schlenderten durch die Menge. Es waren dieselben Leute wie immer, nur dass es mir vorkam, als sähe ich sie zum ersten Mal, mit Paolos staunenden Augen. Da waren Jungs mit Lederjacken, gut aussehende Mädchen in Miniröcken, Yuppies in teuren Mänteln, die irgendwie anachronistisch wirkten, erwachsene Frauen und Männer, Straßenkünstler, ein paar Penner, Filipinos, die Blumen verkauften, Parkwächter, Faschisten, Kommunisten, Ukrainerinnen, Albanerinnen, Senegalesinnen, Leute, die hierhergehörten und andere, die nicht hierhergehörten. Manchmal auch beides in ein und derselben Person.
Ein Auto stand am Straßenrand mit offenen Türen und zwei Mädchen an Bord. Aus dem Wageninneren ertönten mit polizeilich verbotener Lautstärke die Klänge von »Non è tempo per noi«.
Non è tempo per noi, e forse mai lo sarà . Das ist nicht unsere Zeit, und vielleicht wird sie nie kommen.
Genau, dachte ich vage. Das war nur so dahingedacht, ohne Bitterkeit. Ich war guter Laune wegen der Palmen.
Dann trafen wir Oronzo, der mich fragte, ob ich ein Feuerzeug brauchte.
Oronzo ist ein, nun ja, etwas beleibter Herr mit einem Schnauzer, dem man seine positive Einstellung zum Alkohol ansieht. Er taucht jede Nacht mit seinem Fahrrad aus dem Nichts auf und verkauft Feuerzeuge in Form von Fröschen, Fischen, Langusten, mit einem Licht, in dem man eine nackte Frau sieht, mit psychedelischen Lichtern, mit Taschenlampen oder mit aufgedruckten Cannabisblättern. Sie sind samt und sonders herrlicher Trash und finden reißenden Absatz, nicht nur bei Rauchern.
Ich wählte eines in Oktopus-Form, verhandelte über den Preis – das ist so üblich bei Oronzo, es gehört zum Ritual – und erstand es unter Paolos immer erstaunteren Blicken.
»He, was ist denn mit dieser Stadt passiert? Wo kommen diese ganzen Leute auf einmal her?«
»Da haben wir ihn, den Amerikaner. Was denkst du denn? Du bist zwar in Chicago, aber das Leben findet hier statt«, sagte Giampiero stolz. Für ihn war Bari seit eh und je das Zentrum der Welt, und Tatsachen hatten für ihn keine große Bedeutung.
»Wie lange ist es her, dass du zuletzt einen Nachtspaziergang durch Bari gemacht hast, mein Freund?«
Paolo zuckte die Achseln und lächelte wieder. Das hatte er nicht mehr getan, seit er damals weggezogen war. Das hieß, seit über zwanzig Jahren. Wenn er nach Bari zu Besuch kam, blieb er jedes Mal nur ein paar Tage, und die verbrachte er zu Hause bei seiner Familie. Wenigstens, solange die Familie noch in Bari lebte. Dann war
der Vater gestorben und die Mutter zur Schwester nach Lecce gezogen, so dass das letzte Mal, als er nach Bari kam, vielleicht im Jahr 1995 oder auch 1994 gewesen war.
Ich überlegte, was ich 1995 oder 1994 so getrieben hatte, und die Antwort gefiel mir nicht. Noch ein Abgrund, ein Sog in dem Fluss der Erinnerung, in den ich an diesem Abend eintauchen musste.
Meine Gedanken wurden von Giampieros Stimme unterbrochen. Er schlug vor, eine kleine Spritztour mit dem Auto zu machen.
Er verwendete genau diesen Ausdruck, Spritztour, und keiner von uns beiden protestierte.
VIER
In den späten Siebzigerjahren war Bari nachts ein dunkler, ruhiger und wenig einladender Ort. Es gab weder Licht noch Geräusche oder Musik und keine Lokale, wo man abends hingehen konnte, bis auf Kinos. Davon gab es allerdings jede Menge, sogar mehr als heute. Einige von ihnen waren aus ganz unterschiedlichen Gründen wunderschön.
Da war das Gran Cinema Oriente, wo ich den ersten Kinofilm meines Lebens sah, mit vier oder fünf Jahren: Dort wurden jedes Jahr die neuen Disney-Filme gezeigt, und dort ging ich auch zum ersten Mal allein ins Kino, mit elf
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