Eine Nacht ist nicht genug
er es schaffen würde. Doch die Last hatte ihren Vater so niedergedrückt, und das Trinken hatte seinen Körper und seinen Verstand zerstört. Er hatte sich nicht befreien können und es auch nicht gewollt.
„Was ist dann passiert?“
„Ich war bei seinem Tod achtzehn und Kate knapp dreizehn. Man ließ sie bei mir. Also bin ich von der Schule abgegangen und habe mir eine Arbeit gesucht.“
Eigentlich hatte Emily Klavier studieren wollen, doch stattdessen hatte sie alles Menschenmögliche getan, um Kate später eine Karriere als Sängerin zu ermöglichen. Ihre kleine Schwester hatte das Aussehen, das Talent und den Willen, um ihr Ziel zu erreichen. Und jetzt, mit fast neunzehn, war sie entschlossen, ins Ausland zu gehen und es zu schaffen. Emily begleitete sie – auf dem Klavier und mit jeglicher anderen Art von Unterstützung.
„Du hast also für Kate gesorgt“, stellte Luca fest.
„Wir haben füreinander gesorgt“, erwiderte Emily schulterzuckend.
Nach einem längeren Schweigen sah sie ihn an und bemerkte den Schatten, der seine Augen verdunkelte. Offenbar verstand Luca, wie einsam sie gewesen war und wie sie gekämpft hatte. Doch Mitleid brauchte sie nicht: Sie und Kate hatten alles überstanden, und jetzt fing für sie ein neues Leben an. Emily versuchte, die kalte Angst zu ignorieren, die sie beim Gedanken daran erfüllte. Sechs Jahre lang hatte sie in zwei Jobs gleichzeitig gearbeitet und den gesamten Haushalt allein bewältigt. Nun war die vertraute Routine plötzlich weg, alles war neu, und sie wusste nicht, was die Zukunft bringen würde. Doch eins war ihr klar: Sie wollte mehr als das, was ihr bisheriges Leben ihr geboten hatte. Eine Arbeit, die sie mehr erfüllte, und auch ein erfüllenderes Privatleben … Und jetzt, als sie mit diesem atemberaubenden Mann in diesem wunderschönen Park saß, schien ein neues Kapitel ihres Lebens zu beginnen.
„Und wie sieht es bei dir aus?“, fragte sie mit fröhlicherer Stimme. „Wo ist deine Familie?“
Lucas Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er ähnlich Schlimmes erlebt hatte wie sie.
„Meine Mutter ist an Krebs gestorben, als ich sieben war“, erklärte er mit ausdrucksloser Stimme.
„Und dein Vater?“
„Ich kam danach aufs Internat. Wir sind uns nicht sonderlich nahe.“ Seine knappen Worte sprachen Bände.
Erschüttert blickte Emily ihn an. Der Vater hatte seinen kleinen Sohn einfach allein in ein fremdes Land geschickt, in dem man auch noch eine andere Sprache sprach?
„Ich bin meiner Mutter sehr ähnlich“, erläuterte Luca mit einem feinen ironischen Lächeln. „Mein Vater konnte es wohl nicht ertragen, durch meinen Anblick ständig an sie erinnert zu werden.“
Sie waren also beide in gewisser Hinsicht vom überlebenden Vater abgewiesen worden.
„Und wo ist dein Vater jetzt?“, fragte Emily.
„Er hat ein zweites Mal geheiratet und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Rom.“
Ihre Blicke begegneten sich. Fühlten sie sich auch deshalb so zueinander hingezogen, weil sie beide eine schmerzliche Vergangenheit hatten? Emily hatte keine Gelegenheit, diesem Gedanken weiter nachzugehen, denn Luca setzte sich auf und sagte: „Genug Trübsal geblasen. Der Tag ist zu kurz.“ Er griff in den schier unerschöpflichen Picknickkorb und sagte: „Jetzt gibt es Nachtisch.“
Vielleicht hatte die starke Anziehung zwischen ihnen nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun, sondern nur damit, dass Emily noch nie einen körperlich so dynamischen Mann kennengelernt hatte wie Luca. Und er hatte recht: Sie sollte nicht weiter über Düsteres reden, sondern den Urlaub und die Sonne genießen.
Luca lachte leise, als er ihr einen gehäuften Löffel hinhielt und Emily sich neugierig näher zu ihm neigte. Das cremige Dessert schmeckte unglaublich köstlich, geradezu dekadent.
„Lecker, nicht wahr?“, fragte er und hielt ihr erneut den gefüllten Löffel hin.
Sie nickte glücklich und ließ sich dann zufrieden aufs Kissen sinken. Mit geschlossenen Augen genoss sie den himmlischen Geschmack und die sie einhüllende Wärme. Sie wollte mehr davon – und auch mehr von ihm.
„Du hast dich die ganzen letzten Jahre um deine Schwester gekümmert“, hörte sie Luca leise sagen. „Jetzt brauchst du jemanden, der dafür sorgt, dass auch deine Bedürfnisse erfüllt werden.“
Emily öffnete die Augen und bemerkte, dass er den Kopf auf einem Kissen neben ihrem abgelegt hatte. „Woher willst du wissen, dass ich nicht schon jemanden habe?“
„Wenn das
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