Eine Nacht ist nicht genug
Luca zu schmerzen. „Das habe ich auch immer geglaubt“, erwiderte er und ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Aber soll ich dir die furchtbare Wahrheit verraten, Emily? Willst du wissen, was ich wirklich empfinde?“
Schweigend wartete sie ab, denn Lucas Verzweiflung war nun so nahe an die Oberfläche gekommen. Und sie wollte unbedingt verstehen, was ihn so quälte.
„Ich bin froh“, sagte er voller Selbstverachtung. „Ja, ein Teil von mir ist froh über das, was passiert ist – dass sie nicht mehr da ist.“ Er atmete schnell und schwer. „Weil ich dich will.“
Luca wirkte zutiefst entsetzt über sich selbst. „Wenn ich nun zurückblicke, frage ich mich, ob ich Nikki je wirklich geliebt habe. Denn was ich für dich empfinde, ist so überwältigend und intensiv – und erschreckend. Nikki zu verlieren war furchtbar, aber nichts im Vergleich dazu, wie es wäre, dich zu verlieren.“ Er sprach nun lauter und schneller. „Es ist nicht so, dass ich dich nicht will – ich will dich nicht wollen. Jedenfalls nicht so, dass ich alles deshalb infrage stelle und erleichtert darüber bin, dass ich frei bin – für dich. Ist das nicht schrecklich? Ich muss ein furchtbarer Mensch sein.“
Plötzlich unterbrach er sich und wirkte verängstigt und sehr verletzlich. „Kannst du denn einen Mann lieben, der so empfindet?“
„Luca, bitte hör auf.“ Emily ging zu ihm und umfasste eine seiner Fäuste. „Du darfst dich nicht so quälen!“
Sein Herz war nun so weit geöffnet, dass sie tief hineinblicken und alles sehen konnte: den Schmerz, den er erlitten hatte, die selbst auferlegte Einsamkeit – und die Kraft, die es gekostet hatte, all das unter Verschluss zu halten.
„Natürlich hast du Nikki geliebt. Du hast ihr mit der Heirat ihren größten Wunsch erfüllt. Sie kam für dich an erster Stelle. Das ist Liebe“, sagte sie sanft, aber nachdrücklich. „Und durch sie bist du zu dem Mann geworden, der du jetzt bist und der so tief empfinden kann. Von Nikki hast du gelernt, was Liebe, Opfer und Verlust bedeuten. Du hast sie geliebt.“
„Aber nicht auf diese Art.“ Luca schüttelte den Kopf.
Emily drückte seine Hand. „Natürlich ist es anders, ich bin ja schließlich eine andere Frau. Und auch du bist jetzt ein anderer Mensch, als du damals warst. Das ändert aber nichts an den Gefühlen, die du für Nikki hattest – daran, dass du sie geliebt hast. Liebe lässt sich weder messen noch vergleichen, Luca. Liebe ist einfach Liebe. Und deine Angst, mich zu verlieren, ist nur deshalb so schlimm, weil du schon einmal so einen Verlust erlebt hast. Nicht weil ich mehr wert bin.“
Luca schloss die Augen, als sie weitersprach.
„Wenn Nikki überlebt hätte, wärt ihr glücklich zusammen geworden, und wir beide hätten uns nie kennengelernt. Vielleicht wären wir uns einmal zufällig auf der Straße begegnet, und du hättest mich keines zweiten Blickes gewürdigt.“
Als sich auf Lucas Gesicht ein ganz leichtes Lächeln zeigte, stiegen Emily wegen all der Dinge, die er gesagt und nicht gesagt hatte, erneut Tränen in die Augen. „Es ist richtig, sie zu lieben, Luca. Und ebenso ist es richtig, mich zu lieben. Man kann mehr als einmal lieben.“ Bebend atmete sie ein und hoffte inständig, dass er ihre Worte annehmen würde. „Und du hast sowohl ihre als auch meine Liebe verdient.“
Luca senkte den Kopf, um zu verbergen, wie aufgewühlt er war. Emily verspürte tiefes Mitgefühl: mit dem kleinen Jungen, dessen Mutter gestorben war und dessen Vater ihn abgeschoben hatte – und mit dem jungen Mann, der seine erste Liebe so schnell und auf so grausame Art verloren hatte.
Sie legte die Arme um ihn und flüsterte: „An dir ist so viel Liebenswertes, Luca.“
Luca zog sie eng an sich und barg das Gesicht an ihrem Hals. Eine lange Weile herrschte Schweigen.
„Das ist deine große Begabung“, sagte er schließlich leise. „Du unterstützt andere Menschen und schaffst es, dass es ihnen besser geht.“
„Ich habe keine Begabung, ich habe nur Liebe, Luca“, entgegnete Emily. Und die wollte sie ihm schenken.
Seine Hände schlossen sich enger um ihre. „Das ist die großartigste Begabung von allen.“ Er hob den Kopf und sah sie an. „Ich habe dir sehr wehgetan und verdiene deine Liebe nicht. Aber ich bitte dich dennoch, sie mir wiederzugeben.“
„Du hast sie doch bereits“, erwiderte Emily. „Wenn man seine Liebe einmal jemandem geschenkt hat, kann man sie
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