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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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kleiner Junge aus dem Haus gerannt, das Gesicht gänzlich unter einer wilden Lockenmähne verborgen. »Jair!«
    Und im Nu war Sonia aus dem Auto, schloss das unter der Lockenmähne verborgene Kind in beide Arme, und ihr Lachen erfüllte den ganzen Hof. Sofort tadelte sie sich, stellte ihren Sohn ab und umarmte hastig das zweite, größere Kind, das immer noch unter dem Granatapfelbaum stand und sie mit sehnsüchtigen Augen ansah. »Jotam!« Aber der kleine Lockenkopf war nicht bereit, sich derart berauben zu lassen, und fing furchtbar an zu schreien. Da hob Sonia beide Kinder auf einmal hoch, ihr Rücken brach schier unter der Last, ihre Seele schwebte schier vor Wiedersehensfreude. Lea Ron stand mit verkniffenem Mund in der Haustür. Na, was kann man von dieser Sonia auch anderes erwarten, fährt nach Tel Aviv und lässt ihre Kinder zurück, und dann kommt sie wieder und lässt sie so herumschreien, ohne eine Spur von Benimm, statt ihnen eine runterzuhauen und den Tumult auf der Stelle zu beenden. Aber als Lea Ron das Gesicht des Mannes im Auto erblickte, glättete sich ihr Mund zu einem breiten Lächeln. Der Irgun-Vizechef. Höchstpersönlich. Was für eine Ehre. Nein, was für eine Ehre.
    Aber ehe Lea Ron die hohe Persönlichkeit begrüßen konnte, als sie noch passende Worte suchte, startete der Irgun-Vizechef den Wagen und fuhr davon. In Hochgeschwindigkeit. Lea Ron dachte, er sei in Eile. Sonia wusste, dass er geflohen war. Auf der rasenden Rückfahrt nach Tel Aviv ließ er sich die Gestalt des Kindes erneut durch den Kopf gehen, ein Paar Arme und Beine und eine Lockenmähne und darunter ein Gesicht, das er nicht gesehen hatte. Nicht anzusehen gewagt hatte. Denn als er Sonia das Kind hochheben sah, als er ihr Lachen hörte, wusste er nur zu gut, dass er – wenn erst die Locken beiseitegeschoben wären, wenn er nur in die Augen des Kindes sähe – nicht mehr weggehen könnte.
    Einige Tage nach der fluchtartigen Abfahrt des Irgun-Vizechefs kam Sonia wieder nach Tel Aviv, mit beiden Kindern. Lea Rons Verhalten hatte ihr klargemacht, dass es besser war, die Kinder mitzuschleppen, als sie bei dieser sauertöpfischen Frau zu lassen. Sie engagierte eine Tagesmutter und unterließ künftig die Spaziergänge mit dem Irgun-Vizechef, um abends bei ihnen zu sein. Nun trafen sie sich nur noch bei Sitzungen. Dann lächelten sie einander höflich zu und suchten sich jeder einen Stuhl, möglichst weit voneinander, damit der Irgun-Vizechef Sonias Orangenduft nicht roch und Sonia die Verzweiflung des Irgun-Vizechefs nicht witterte.

13
    E ine Woche später, als der Irgun-Vizechef von einer ermü- denden Sitzung in sein Büro zurückkehrte, traf er vor der Tür zu seiner Überraschung auf Jakob Markowitz. Ihre letzte Begegnung war lange her. Während die Münder Höflichkeitsfloskeln austauschten, forschten die Augen fieberhaft: Jakob Markowitz entging nicht das leichte Zittern auf den Lippen des Irgun-Vizechefs, das von aufgewühlter Stimmung zeugte. Und der Irgun-Vizechef stellte fest, dass Jakob Markowitz während des ganzen Gesprächs die Fäuste geballt hielt, und eine geballte Faust ist doch nichts anderes als die klare Ansage: Ich will etwas bekommen und habe nicht die Absicht, darauf zu verzichten. Als jeder der beiden Männer sich ein klares Bild seines Gegenübers gemacht hatte, stellten sie endlich ihre unverbindliche Unterhaltung ein. Jakob Markowitz unterbrach abrupt seinen Vortrag über die Dürreschäden, ballte die Fäuste noch fester und fragte: »Hast du was von Feinberg gehört?«
    Das leichte Zittern auf den Lippen des Irgun-Vizechefs verstärkte sich ein wenig.
    »Ich habe ihn nach Europa geschickt. Er leistet dort gute Arbeit.«
    »Und wann kommt er zurück?«
    »Wann er möchte.«
    Jakob Markowitz überdachte die Antwort des Irgun-Vizechefs, ehe er sagte: »Das ist ungewöhnlich.«
    Der Irgun-Vizechef hob leicht die rechte Augenbraue, was seinem Gesicht einen belustigten Ausdruck mit leicht spöttischer Note verlieh. In seiner Jugend hatte er genau diese Geste stundenlang vor dem Spiegel geübt, als hätte er geahnt, wie sehr sie ihm Jahre später einmal bei der Verwirrung seiner Gegner helfen würde.
    »Das ist ungewöhnlich? Dass ein Mensch auszieht, um das Blut seiner Volksangehörigen zu rächen, erscheint dir ungewöhnlich?«
    Jakob Markowitz duckte sich auf seinem Stuhl. Unwillkürlich erinnerte er sich an das erste Mal, als er in ebendiesem Büro gesessen hatte. Wie verschämt und eingeschüchtert

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