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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Kleine so ganz anders aussah als die Männer, machten sich die Stadtbewohner Gedanken über ihre Identität. Kein Mensch wollte glauben, dass sie die Tochter des schnauzbärtigen Mannes sei, obwohl er das allen Kellnerinnen des einzigen Gasthauses versicherte. Schon raunte jemand, das Pessachfest stehe vor der Tür, und vielleicht hätten die Juden keinen Christenjungen gefunden und müssten sich mit diesem Baby begnügen. Doch umgehend brachte ihn ein anderer barsch zum Schweigen: Die Zeiten hätten sich geändert. Eine Judenbande ziehe durch die Straßen, und Pistolen lugten ihnen aus den Hosentaschen. Man solle sich lieber um seine eigenen Kinder kümmern, als gefährliche Mutmaßungen über anderer Leute Kinder anzustellen. Die Kommandomitglieder hörten das Getuschel und wollten schon weg, aber die Kleine bekam Fieber, und so mussten sie ein paar Nächte im Städtchen bleiben. Tagsüber raste Seev Feinberg mit seinem Wagen in ferne Dörfer, um dort Auskünfte zu sammeln, die Leute nach Hinweisen auszuhorchen, aber nachts kehrte er mit den anderen Kameraden ins Gasthaus zurück, nickte dem eher reservierten Wirt einen Gruß zu und ging auf sein Zimmer, um der Amme das Kind abzunehmen. Dann wickelte Feinberg die Kleine fest in Decken ein und machte sich auf den nächtlichen Spaziergang mit ihr. Die Blicke der Einwohner folgten ihm wie ein Schwarm Glühwürmchen.
    An dem Abend, an dem Jakob Markowitz in dem Städtchen ankam, hatte Feinberg seinen Spaziergang schon angetreten und spürte auf einmal nicht nur Glühwürmchen im Rücken. Etwas anderes war hinter ihm her, zu fern, um es zu erkennen, zu nah, um es zu ignorieren. Die Kleine im einen Arm, griff er mit der anderen Hand nach der Pistole. Die Gestalt hinter ihm ging schneller. Seev Feinberg entsicherte die Waffe und fuhr herum, geradewegs in die ausgebreiteten Arme seines alten Freundes, Jakob Markowitz.
    »Großer Gott, Markowitz, beinah hätte ich dir die Visage zerschossen!«
    Viel Zeit war vergangen, seit Seev Feinberg und Jakob Markowitz sich das letzte Mal getroffen hatten, bei Kriegsausbruch war das gewesen. Jetzt umarmten sie sich lange. Seev Feinberg hielt die Kleine im einen Arm und schlang den anderen um Markowitz. Obwohl Markowitz gern gefragt hätte, wer zum Teufel dieses kleine Mädchen sei, verschob er seine Nachforschungen wegen des großen Ereignisses. Der Umschlag des Mannes mit der Windjacke hatte ihm auf europäischem Boden zwar schon viele Umarmungen eingebracht, aber keine war ihm so nahegegangen wie die von Seev Feinberg. Jetzt wusste er, dass er sich nicht umsonst auf die Reise gemacht hatte.
    Seev Feinberg ließ von Jakob Markowitz ab und blieb stehen, um ihn prüfend anzusehen. »Aus dir ist ein Mann geworden.« Zwar war Markowitz immer noch so schmal wie zuvor, und auch die wässrigen Augen waren die gleichen. Und doch hatte er unverkennbar eine Veränderung durchgemacht. Wann und wie diese Veränderung eingetreten war, konnte Seev Feinberg nicht wissen. Aber er wusste sehr wohl, dass der Mann, der jetzt auf dem Boden Europas vor ihm stand, anders war als der, den er bei Ausbruch des Krieges getroffen hatte. Wegen der großen Veränderung fragte sich Seev Feinberg einen Moment, ob es sich um den gleichen Menschen handelte, verwarf die Frage allerdings sofort wieder. Denn wer wüsste besser als er, dass kein Mensch derselbe Mensch war, nachdem er in den Krieg gezogen und daraus heimgekehrt war.
    »Und du«, wandte sich Jakob Markowitz an seinen Freund, »du, der du ein Mann gewesen bist, was ist aus dir geworden?« Seev Feinberg wurde ernst bei dieser Frage. Nach einer langen Weile antwortete er: »Ich bin ein Nomade geworden.«
    »Ein Nomade? Aber du hast doch ein Haus. Und eine Frau. Und ein Kind.«
    Noch ehe Jakob Markowitz ausgeredet hatte, wandte Seev Feinberg sich von ihm ab und starrte auf einen fernen Punkt. Auf der anderen Straßenseite bereiteten sich die Häuser auf die Nacht vor. Lichter wurden gelöscht, lachende Stimmen zum Schweigen gebracht. Die Einwohner des Städtchens begannen, sich von dem vergangenen Tag zu verabschieden, stellten sich auf das Gewirr der nächtlichen Träume ein. Die Augen auf die Fenster der Häuser gerichtet, sprach Seev Feinberg zu Jakob Markowitz, und seine Stimme zitterte: »Ich kann nicht heimkehren, Markowitz. Ich kann es nicht. Ich habe Sonia ausgelöscht. Ich hatte nicht gedacht, irgendwas auf der Welt würde diese Frau auslöschen können. Aber ich konnte es. Und das Haus, das war kein

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